T.J. Wilcox bei Daniel Buchholz, Köln

Heldentat eines Indianerhäuptlings

erschienen am 11. Juli 2006 auf artnet.de: artnet.de/magazine/tj-wilcox-bei-daniel-buchholz-koln

T.J. Wilcox, Galerie Daniel Buchholz, Köln. Bis 19. Juli 2006

A fair tale heißt der neueste Film von T.J. Wilcox (geb. 1965), der zur Zeit in einer Ausstellung der Kölner Galerie Daniel Buchholz zu sehen ist. Hier zweifellos in einer Abwandlung von „fairy tale“ – also Märchen – verwendet, kann „fair“ auch gerecht, ausreichend, aufrichtig oder schön heißen. Als Substantiv bezeichnet „fair“ den Jahrmarkt, die Kirmes. Diese letzte Bedeutung ist es, die direkt den Inhalt des Films (16 mm, Farbe, ohne Ton, 5:33 Min., Auflage 5, Preis 15.000,- US-Dollar) aufgreift. Darin erzählt der in Seattle geborene und heute in New York lebende Künstler eine Geschichte aus seiner Kindheit. Beim Ausflug zu einer Kirmes 1972 mit den „Hippie-Freunden“ seiner Eltern schaut der damals siebenjährige T.J. einer Tanzdarbietung von Indianern zu. Mitten in der Vorstellung landet versehentlich ein Fallschirmspringer in der Nähe, sein riesiger Schirm hüllt die Zuschauenden ein. Während der Junge sich aus den undurchsichtigen Stoffbahnen zu befreien versucht, wächst in ihm eine Panik heran. Doch ehe es zu einem Unglück kommen kann, wird er mit einem beherzten Griff aus der Fallschirmfalle gezogen – des Jungen heldenhafter Retter ist niemand anderes als der Indianerhäuptling selbst.

Diese kleine Geschichte über ein kindliches Abenteuer, über Todesangst und eine Heldentat, wird in Untertiteln erzählt, die recht klassisch linear aufgebaut sind. Die eingeblendeten Textzeilen begleiten die suggestiven Bilder und ergeben mit ihnen einen fein abgestimmten Rhythmus. Die Filmaufnahmen zeichnen sich durch weiche Grobkörnigkeit und eine goldbraune Farbpalette aus. Jeder, der Super-8-Filme aus den 1970er Jahren zu Hause hat, wird sich sogleich erinnert fühlen – nicht zuletzt durch das laute Rattern des altmodischen Filmprojektors, der die Stille des Films gewaltsam übertönt. Projiziert wird der Film auf eine tragbare Leinwand, die in ihrem schmalen Kasten auf demselben breiten Sockel wie der Projektor steht.

Nicht die Protagonisten sind auf den Bildern zu sehen, sondern vielmehr Eindrücke des gesamten Ausflugs: ein alter VW-Bus, die Attraktionen einer Kirmes, dann ein heller Fallschirm mit Schatten von darin herumirrenden Menschen und schließlich Indianer, die einen Tanz aufführen. Wie Bebilderungsangebote zu der verbal erzählten Geschichte wirken diese Aufnahmen. So wie der Erzähler sich bemüht, die erinnerten Ereignisse in eine sprachliche Form zu bringen, so gibt er ihnen eine visuelle Gestalt – wissend, dass weder die eine noch die andere auch nur annähernd exakt sein kann.

T.J. Wilcox nimmt üblicherweise das Material für seine Filme mit einer Super-8-Kamera auf. In einem zweiten Schritt überträgt er es auf Digitalvideo, um Veränderungen und Manipulationen jeglicher Art daran vornehmen zu können. Abschließend überträgt er das bearbeitete Material für die Projektion auf 16-mm-Film. „In den Labors denken sie, ich verliere das Bild, aber ich habe immer das Gefühl, ich gewinne bei jedem Schritt im Prozess etwas Neues hinzu.“

Seinen ersten Film widmete Wilcox 1996 der unglücklichen Königin Marie Antoinette, den zweiten ein Jahr später dem Kaiser von China. 1999 beschäftigte er sich mit Marlene Dietrichs Vorstellungen ihres eigenen Begräbnisses: „Könnt ihr euch den Rummel vorstellen, wenn ich tot bin? (...) Die Journalisten! Die Fotografen! Die Fans! De Gaulle wird einen Nationalfeiertag einsetzen. In Paris wird es keine Hotelzimmer mehr geben (...)“. Dazu zeigte der Künstler alte Aufnahmen der Dietrich, Bilder von Staatsbegräbnissen, Impressionen aus Paris – und verlor kein Wort darüber, dass sich Marlenes Vision als so sehr falsch erwies.

In den seit 2003 entstehenden Garlandsverbindet Wilcox seine Filme zu „Girlanden“, die um so disparate Themen wie Sonnenuntergänge und Rodeo-Reiten, Schwäne, die einer todkranken Nachbarin den Tag des Weltuntergangs vorhersagen (16. 12. 2012), den Hund des letzten Zaren sowie die Dankbarkeit gegenüber dem Orden der Mechitaristen auf San Lazzaro kreisen. Grund des Dankes: Die armenischen Mönche seien die ersten gewesen, die Angorakatzen in den Westen mitbrachten. Die sechs „Girlanden“ werden stets auf nebeneinander im Ausstellungsraum aufgestellten Leinwänden präsentiert. Die einzelnen Filme beginnen mit einer Titelmaske, schließen mit der Angabe „The end“ und unterscheiden sich damit bewusst von den im Kunstkontext so oft präsentierten Loops.

Bei Buchholz allerdings verzichtet Wilcox auf die „Garlands“ und zeigt neben dem „Jahrmarktmärchen“ ausschließlich neu entstandene Collagen, die zwischen 4.000,- und 7500,- US-Dollar kosten und inzwischen fast alle verkauft sind. Sie nehmen Bilder und Versatzstücke aus den Filmen um Marie Antoinette, den chinesischen Kaiser und die Comtesse de Castiglione mit Gouachen und Grafit auf handgemachtem Papier wieder auf und montieren diese mit Zeitungsausschnitten von Galliano-Entwürfen, abgezeichneten Landschaftsdarstellungen von Jean-Honoré Fragonard sowie Fundstücken aus allen nur denkbaren Zusammenhängen zu losen, narrativen Gebilden. Helden und Haustiere, Kunstfilm und das ganz große Kino, alltägliches Leben und die Bedrohung durch den Tod, Geheimnis und Banalität – in T.J. Wilcox’ Werken verbindet sich alles miteinander, ohne jedoch vermengt zu werden. Das ist die Kunst.