William Kentridge: Tide Table*, 2003

erschienen in: in: Überleben in zukünftiger Vergangenheit, Erwerbungen 1990 – 2007. Armin Zweite und die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, hrsg. von Julian Heynen und Pia Müller-Tamm, K20 K21 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2008

Zweifellos findet jeder – und auch der ungeübte - Kunstbetrachter in William Kentridges Filmen nicht nur erzählerische Elemente oder narrative Spuren, sondern gleich (vermeintlich) vollständige Geschichten vor. Kentridges Animationen scheinen geradewegs dazu einzuladen, zu ihrem Verständnis das Schema des Narrativen anzuwenden.[1] Umso mehr erstaunt es, dass der Künstler, der immer wieder als der Geschichtenerzähler par excellence unter den Zeitgenossen bezeichnet wurde, betont, er sei an dem Prozess des Geschichtenerzählens überhaupt nicht interessiert:

Geschichtenerzählen als bewusster Prozess ist nichts, woran ich interessiert bin, noch daran, eine Geschichte zu erzählen...” [2]

Diese offensichtliche Diskrepanz bedeutete für mich den Reiz, William Kentridges “drawings for projections” – seine bislang neunteilige Reihe von Animationsfilmen – in meiner Dissertation über Erzählstrategien in der zeitgenössischen Kunst einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Möglich wurde mir dies unter anderem, weil es sich just so fügte, dass K20 im Jahre 2004 eine groβe Kentridge-Ausstellung zeigte – ein wahrer Glücksfall für die Doktorandin, die dadurch dankenswerterweise die Gelegenheit erhielt, alle Arbeiten in Ruhe studieren zu können!

Im Zusammenhang mit der Ausstellung in K20 hat die Kunstsammlung William Kentridges Tide Table angekauft, die vorläufig letzte Folge der 1989 mit Johannesburg, 2nd Greatest City After Paris begonnenen Reihe. Für diesen Film schuf Kentridge etwa 50 Zeichnungen, die von ihm so genannten „drawings for projection“. Kentridge selbst nennt sein Vorgehen „stone age technique“ und entzieht sich damit den heute so aktuellen Forschungen und Diskussionen auf dem Gebiet neuester Technologien. Die einzelnen Blätter wurden viele Male verändert und überzeichnet und die verschiedenen Entstehungsstadien der jeweiligen Zeichnung abgefilmt. Diese Arbeitsweise, die im Gegensatz zu der üblichen Methode steht, eine Filmsequenz aus vielen verschiedenen Zeichnungen zusammenzusetzen, hinterlässt sichtbare Spuren des Radierens im Bild. Während des Zeichenprozesses wandert der Künstler zwischen der Kamera, für gewöhnlich einer alten Bolex, und dem Papier hin und her. Kentridge erläutert, dass er „begann (...) die Zeichnungen zu filmen, um ihre (!) Geschichte zu erzählen. (...) So hält das Filmen nicht nur die Veränderungen der Zeichnung fest, sondern enthüllt auch die Geschichte dieser Veränderungen, da jedes Radieren etwas von dem Vorhergegangenen zurücklässt, wie die Spur einer Schnecke. (...)“[3] Im Laufe der Jahre hat der Künstler eine virtuose Meisterschaft darin entwickelt, ganze Bewegungsabläufe vornehmlich durch die Rückstände des Radierers zu veranschaulichen.[4]

In der losen, bisher neunteiligen Reihe von Filmen, die zwischen drei und neun Minuten lang sind, spielt einerseits der Protagonist Soho Eckstein, ein Großindustrieller aus Johannesburg, eine Rolle und andererseits der stets nackt auftretende Künstler und Träumer Felix Teitlebaum. Beide sehen dem Künstler frappierend ähnlich. Sie als verschiedene Facetten eines Selbstportraits zu lesen, liegt daher sehr nahe. In Tide Table begegnen wir nur noch Soho, der in seinem charakteristischen Nadelstreifenanzug am Strand auftritt, durch ein Fernglas schaut, Menschen beobachtet, die eine Kuh ins Meer hinaustreiben (laut Kentridge eine er der Initialideen für diesen Film) und in einem Liegestuhl Zeitung liest.

Ich begann den Film mit dem Gedanken, (...) dass ich einen Film haben wollte, in dem er (Soho) wieder aktiv im Leben steht. (...) irgendwie ist er jedoch noch mehr allein als in irgendeinem der anderen Filme. All die anderen Leute um ihn herum treffen einander, und er ist in seine eigene Welt versunken.“[5]

Am Ende jedoch erlaubt der Erzähler dem Protagonisten eine Versöhnungsgeste, indem er ihn händehaltend mit einer – nicht näher identifizierten – schwarzen Frau zeigt.

Verschiedene Bilder sind es, die nach dem Film in Erinnerung zurückbleiben – neben den genannten zum Beispiel die drei Generäle auf den Balkonen, das Hotel am Strand, die Menschenansammlung, der Leib der geschlachteten Kuh – und auch Geräusche wie das gleichmäβige Meeresrauschen und die suggestive afrikanische Musik. Spätestens beim Versuch, die ‘Geschichte’ nachzuerzählen, stellt der Betrachter fest, dass dies kaum möglich ist; die Bilder wollen sich nicht in kausale Zusammenhänge einfügen. Damit gleichen Kentridges Filme Träumen, die erzählerische ‘Lücken’ aufweisen und doch – jenseits einer narrativen Ebene – ihren Sinn behalten.

 Man beginnt an irgendeinem Punkt in der Mitte, man folgt der Linie, man erweitert sie. Man folgt ihr dahin, wohin sie führt. Zum Teil ist es eine Projektion des Bildes, das man im Kopf hat, zum Teil eine Rezeption dessen, was man erkennt, während die Zeichnung sich entwickelt. (...) Ich arbeite assoziativ, regiere auf das, was entsteht, in der Hoffnung, dass am Ende nicht nur Lärm bleibt, sondern etwas, das einen gewissen Sinn hat, wenn schon keine Klarheit und Kohärenz.“[6]


*auf 35 mm aufgenommener Animationsfilm mit einer Länge von acht Minuten, der auf Video bzw. DVD übertragen wurde, 50 Zeichnungen, Kohl und Pastell auf Papier, Maβe variabel. Der Film wird in einem abgedunkelten Raum präsentiert; die Größe der Projektion soll dabei an die des Raumes angepasst werden, allerdings darf die Projektion nach den Angaben des Künstlers nicht kleiner als drei Meter breit sein.



[1] Vgl. Zum Schema des Narrativen: Barbara J. Scheuermann: Erzählstrategien in der Zeitgenössischen Kunst, Köln 2006, besonders Kapitel I und Schluss.

[2] William Kentridge in einer E-Mail an die Verfasserin am 12. Mai 2004. „Storytelling as a conscious process is not something I am interested in, nor to tell a story.”

[3] William Kentridge, Kentridge (dt.) 2004, S. 22.

[4] In diesem Zusammenhang bemerkenswert ist, dass der Künstler dieses Sichtbarbleiben der Spuren des Radierers erst spät als bedeutsamen Teil seiner Arbeit akzeptiert hat: „Als ich mit den Animationen anfing, (...) stand ich vor dem Problem des Radierens. (...) Während des ersten Jahres, in dem ich Animationen machte, habe ich jede Möglichkeit ausprobiert, dieses Geisterbild loszuwerden. (...) Ich empfand es einfach als Fehler, als Unzulänglichkeit meiner Technik. (...) Ich habe fast anderthalb Jahre gebraucht, bis ich begriff, dass die radierten Stellen sowohl Teil der Filme als auch, mehr noch, Teil ihrer Bedeutung und ihres Reizes waren. Sie hatten mit dem Sinn der Dinge zu tun.“ William Kentridge. Thinking Aloud. Gespräche mit Angela Breidbach. Kunstwissenschaftliche Bibliothek, Bd. 28, Köln 2005, S. 37f.

[5]Kentridge/Breidbach 2005, S.71.

[6]Kentridge/Breidbach 2005, S. 74.