Zutritt nur für Unbefugte

aus: Stef Heidues, Trespassers Only, Kat. Rudolf-Scharpf-Galerie des Wilhelm-Hack-Museums, Ludwigshafen am Rhein, hg. von Barbara J. Scheuermann und Reinhard Spieler, Berlin 2013

Stef Heidhues macht Angebote, und zwar „in meiner künstlerischen Sprache“, erklärt sie im Gespräch mit Hans-Jörg Clement und fügt hinzu: „Insofern sind sie vielleicht auch nicht für jeden lesbar. Das ist für mich vollkommen ok.“

Mit der für sie charakteristischen geradlinigen Ausdrucksweise und anscheinend großer Gelassenheit spricht die Künstlerin hier einen Aspekt an, der nicht nur Künstler, sondern auch und gerade viele Kunstbetrachter beschäftigt: die mögliche Existenz einer universell verständlichen Sprache der Kunst. Mit ihrer schnörkellosen Erwiderung auf die Frage nach dem „Risiko des Didaktischen“ beantwortet Stef Heidhues zugleich die Frage nach dieser universellen Sprache der Kunst beziehungsweise spricht ihr, zumindest für ihr eigenes Schaffen, die Relevanz ab – um Allgemeinverständlichkeit geht es ihr nicht. Zum einen ist das für die Betrachter ungemein entspannend: Viele von Heidhues‘ Arbeiten mögen nämlich zunächst seltsam erscheinen und vielleicht sogar kryptisch, und da es zumindest für die Künstlerin schon mal „vollkommen ok“ ist, wenn wir ihre unverbindlichen „Angebote“ nicht verstehen, können wir unser eigenes Unverständnis auch gleich viel leichter aushalten. Natürlich ist es damit aber nicht getan, jedenfalls nicht, wenn ein echtes Interesse an der Kunst besteht, die wir vor uns haben.

Bei der Kunstbetrachtung (und nicht nur da) bildet das erste Nicht-Verstehen oftmals ein Hindernis auf dem Weg zur Erkenntnis. Nur allzu leicht wendet man sich ab von Dingen, die sich nicht gleich erschließen wollen. Dass Stef Heidhues nun offensichtlich leichthin akzeptiert, dass ihr Werk für manchen nicht entzifferbar ist, könnte bedeuten, dass sie an jenen, die ihr nicht gleich folgen können, kein weiteres Interesse hat – nur den Artverwandten und Eingeweihten wäre dann der Zugang zu ihren künstlerischen Überlegungen gewährt. Aber ist das wirklich so gemeint? Nicht zuletzt der Titel unserer Ausstellung gibt einen gut lesbaren Hinweis, dass dies wohl eher nicht der Fall ist: „Trespassers only“ – „Nur für Unbefugte (bzw. Eindringlinge)“ hat die Künstlerin diese Werkschau genannt und verweist damit deutlich auf die Schwelle zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen, aber auch zwischen Werk und Betrachter, vielleicht auch zwischen Museum und Umgebung und ganz sicher zwischen Künstler und Welt. Die Umkehrung des Verbots „Kein Zutritt für Unbefugte“ wird zur Forderung: Nur, wer sich über die Schwelle wagt, ist willkommen. Das heißt, jeder darf hineinkommen, erkennt damit seine Position als Eindringling und Grenzüberschreiter an und wird – paradoxerweise – letztlich zum Befugten.

Die im Ausstellungstitel angelegte Uneindeutigkeit der Position und Funktion von Grenzen und Zuständigkeiten bildet den Mittelpunkt im bisherigen künstlerischen Schaffen von Stef Heidhues. So ist es nicht erstaunlich, dass mit ihren Installationen immer wieder Trennendes und Teilendes hervortritt: Zäune, Vorhänge und neuerdings Geländer strukturieren den sie umgebenden Raum und deuten ihn um in ein Hier und Dort, Davor und Dahinter, Innen und Außen.

Dabei fungieren diese raumteilenden Installationen zwar oftmals als Barrieren verfügen aber stets über eine geradezu anrührende Fragilität – nur ein leichter Stoß mit der Hand würde den Holz- und Stahlrahmen von Late Bloomer zum Wanken oder den von Bye Bye You and Me Against the World gar zum Umfallen bringen. Letzteres gleicht einem Paravent, erfüllt aber dessen Hauptfunktion – das Fernhalten von Blicken – nicht im mindesten, im Gegenteil: vielmehr scheint durch das Fehlen der abschirmenden Wand das Gestell zur Rahmung dessen zu werden, was sich vom Betrachter aus hinter ihr befindet. Der ‚Paravent’ fungiert also gleichsam als Bilderrahmen des Durchblicks. Der Titel, Bye Bye You and Me Against the World (Auf Wiedersehen Du und ich gegen den Rest der Welt), fügt der minimalistischen Konstruktion eine weitere Bedeutung hinzu, die nahe legt, dass sie ursprünglich durchaus die Funktion einer abschirmenden Wand innehatte, die nun verschwunden ist und die Blicke freigibt, auf was auch immer dahinter verborgen war. „You and me against the World“ deutet eine Verbundenheit an, die nun der Vergangenheit angehört. So wird aus zwei mit Scharnieren verbundenen Stahlrahmen das Sinnbild für den Verlust von Geborgenheit. Auf der formalen Ebene ist Bye Bye You and Me Against the World ein prägnantes Beispiel für das, was Stef Heidhues ein „räumliches Bild“ nennt: mit wenigen Eingriffen wird der die Skulptur umgebende Raum Teil des Werkes – er wird zum begehbaren Bild.
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Eine Sonderstellung nimmt die Arbeit Madonna ein. Schon jetzt, in diesem noch recht frühen Stadium der künstlerischen Karriere von Stef Heidhues, ist festzustellen, dass Madonna eins ihrer Hauptwerke ist. Diese Einschätzung wird nicht nur dadurch gestützt, dass sich die Arbeit seit 2011 in der Sammlung zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland befindet, sondern lässt sich auch formal und inhaltlich begründen, auch wenn Madonna, wie die Künstlerin selbst einräumt, „auf den ersten Blick mit ihrer kompakten Form und ihrer Bildhaftigkeit gar nicht so typisch“ für ihr Werk ist. „Typisch“ allerdings ist das künstlerische Interesse am gefundenen Material als Ausgangspunkt. Die Madonna besteht aus nichts weiter als alten Fahrradketten, die über einen Nagel gehängt wurden. Durch den Titel wird die Beiläufigkeit des Arrangements auf denkbar stärkste Art aufgeladen: die alten Fahrradketten werden zum Haar der Idealfrau schlechthin, der Muttergottes, dem Inbegriff von Tugend und göttlicher Unantastbarkeit. Material und Deutung gehen hier eine Verbindung ein, die nicht nur das Gleichgewicht zwischen Lässigkeit und Erhabenheit hält, sondern auch zwischen Ernst im Sinne von künstlerischer Qualität und feinem Humor. Souverän spielt Heidhues hier mit den Ansprüchen und Fallstricken künstlerischen Strebens nach Perfektion und ... Faszinierenderweise bleibt die ikonische Erhabenheit der Madonna davon unberührt und verteidigt bei aller Ambivalenz ihre Sonderstellung.

So untypisch für das Gesamtwerk Madonna auf den ersten Blick erscheinen mag, so typisch ist diese sie auf formaler wie inhaltlicher Ebene prägende Ambivalenz. „Es geht mir darum, das Werk in einem Spannungszustand zu halten. Obwohl es um Uneindeutigkeit geht, die ich erreichen oder bewahren will, muss ich in Bezug auf die Arbeit total klar sein.

Uneindeutigkeit ist in diesem Fall das Gegenteil von Beliebigkeit.“ Die Opposition von Uneindeutigkeit und Beliebigkeit mag zunächst paradox klingen, ist aber entscheidend: Kaum etwas ist schwerer voneinander zu unterscheiden, allzu leicht lässt sich nämlich Beliebigkeit mit einer vermeintlich beabsichtigten Uneindeutigkeit erklären – dies zu widerlegen ist denkbar schwierig, und umgekehrt liegt es in der Natur der Sache, dass sich Uneindeutigkeit nur schwerlich festlegen lässt; der Verdacht der Wahllosigkeit hängt schnell in der Luft. Das Risiko geht Heidhues wissentlich und willentlich ein. Es ist genau diese Grenze oder vielmehr: die Zone, welche die Künstlerin interessiert. Genau hier muss der „Spannungszustand“ gehalten werden, der sämtliche ihrer Arbeiten auszeichnet.

Für Flag verwendet Heidhues noch einmal die Fahrradketten: was bei Madonna nach langem Haar aussieht, erscheint hier plötzlich als der ausgefranste Stoff einer mit einem Fahnenhalter an der Wand befestigten, mächtigen schwarzen Flagge. Bis zum Boden reichen diese vermeintlichen Fransen und machen aus der Fahne einen Vorhang – erneut haben wir hier also einen Raumteiler vor uns, eine Barriere, dieses Mal in Form des stark aufgeladenen Symbols der Fahne, das zugleich als Markierung, Machtanspruch, Ansage verwendet werden kann. Sie versperrt den Weg. Die durch das Material gegebene Immobilität erzeugt die starke physische Präsenz der Arbeit. Da sie aus Fahrradketten gemacht ist, kann sie nicht im Wind wehen und auch nicht so ohne weiteres als Machtemblem vorneweg getragen werden. Im Widerspruch dazu aber ist die Fahne ausgefranst, der Beschaffenheit der benutzten Fahrradketten zum Trotz wirkt sie beschädigt, sogar fragil. Diese Ausgefranstheit deutet zudem an, dass die Fahne bereits im Kampf verwendet wurde. So erscheint sie als Souvenir einer Schlacht, deren zugrundeliegender Konflikt und deren Verlauf unbekannt und schwer vorstellbar bleiben. Die vermeintlich einfache Lesbarkeit des universellen Zeichens der Fahne löst sich auf zugunsten einer komplexen Uneindeutigkeit, die zugleich die Symbolhaftigkeit erhält und aufbricht – kein Paradoxon, sondern der erreichte „Spannungszustand“.

Nachdem die Künstlerin in den letzten Jahren vor allem mit gefundenen und industriellen Materialien gearbeitet hat, beschäftigt sie sich erst seit wenigen Monaten mit dem formbaren, natürlichen Werkstoff Keramik. Neben den ...Geländern mit Keramiken entstanden seither unter anderem die Serie der Protectors und, noch neuer, die Serie der Helme.

Die Protectors aus unglasiertem Keramik erinnern an Gelenkschoner, wie sie im Sport und bei Kampfeinsätzen verwendet werden, und haben auch daher ihren Namen. Mit Metallhaltern an der Wand oder– scheinbar provisorisch – mit Klettbändern an im Raum stehenden Pfeilern befestigt, verändert sich allerdings ihre Wirkung: die ovalen Reliefs, die zum Teil Öffnungen haben, bekommen etwas Maskenhaftes. Im nächsten Moment kann der Eindruck von Wappen entstehen. Mehrere übereinander  verwandeln den Pfeiler gar in eine Art Totempfahl. All diesen Lesarten ist gemeinsam, dass sie verknüpft sind mit Aspekten von Schutz, Verteidigung und Markierung. Schoner, Masken und Wappen bilden jeweils eine Art Schild vor einer Identität, schieben eine Schicht zwischen Körper und Umwelt. Damit sind die Protectors ein weiteres Beispiel dafür, wie es Stef Heidhues gelingt, ausgehend von der Entscheidung für ein bestimmtes Material – in diesem Fall Keramik – und eine bestimmte Form – in diesem Fall die von Protektoren – eine Art Emblem zu schaffen, das zwar einerseits ambivalent erscheint, andererseits in seiner Deutung immer wieder zu denselben Themen zurückführt. Das ist gemeint, wenn die Künstlerin von der erstrebten Uneindeutigkeit im Unterschied zu Beliebigkeit spricht.

Zu den neuesten Arbeiten in unserer Ausstellung und in diesem Buch gehören die Helme. Auch ihre Form und Funktion entstammt dem Bereich von Kampf und, heutzutage, Sport: Helme werden verwendet beim Militär, der Polizei, im Motor- und Radsport oder als Schutz auf dem Bau und im Bergwerk (um nur einige Bereiche zu nennen) und historisch natürlich als Teil von Ritterrüstungen. Präsentiert werden Heidhues’ Helme museal auf von der Künstlerin zu diesem Zweck gefertigten Metallsockeln. Außen sind sie unbehandelt, innen dunkel glasiert. Das zerbrechliche Material der Keramik steht im scharfen Gegensatz zur ursprünglichen Schutzfunktion von Helmen. Sowohl den ‚richtigen’ Helmen als auch den Helmen ist gemein, dass sie von der Form des Kopfes ausgehen. Ansonsten aber sind die Möglichkeiten ihrer Ausformungen wie die ihrer Einsatzbereiche sehr weit gefächert. Beispielhaft sei hier auf Helm # 4 verwiesen, der mit seinen Faltungen wie Stoff behandelt ist, sein Inneres aber glänzt, wie nur hartes Material glänzen kann. Er ist zugleich Helm und Tuch, der vordere Teil Mundschutz, Visier und Schal – Assoziationen, die im selben Moment an so weit voneinander entfernte Gebiete wie die Motorpiste, die Wüste und die islamische Welt führen. Während beispielsweise bei Helm # 1 der Bezug zur europäischen mittelalterlichen Ritterrüstung und zur Sphäre der Männer offensichtlicher ist, ist die abwesende Person, für die Helm # 4 gemacht sein könnte, nicht nur ohne klare Herkunft, sondern auch ohne bestimmtes Geschlecht, also viel weniger eindeutig vorzustellen. Und dennoch schaut sie uns an.


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