Teresa Margolles im Westfälischen Kunstverein, Düsseldorf

Der strenge Duft des Todes

erschienen in INTRO (Ressort Steil), November 2006, online: intro.de/magazin/kunst/23037944/teresa-margolles-der-strenge-duft-des-todes

Der große Ausstellungsraum scheint auf den ersten Blick leer zu sein. Noch bevor man das Kunstwerk bemerkt, registriert man den seltsamen antiseptischen Geruch, der in der Luft liegt – irgendwie unangenehm, aber nichts, was definitiv negativ einzuordnen wäre. Dann die Entdeckung des Fadens: Er spannt sich 35 Meter, längs die Halle teilend, durch den Raum und besteht aus vielen kürzeren Fäden, die aneinandergeknotet wurden. Manche sind in verschiedenen rötlichen Brauntönen verfärbt. Es dauert nur Augenblicke, um zu begreifen, dass sie blutgetränkt sind. Der Schockmoment ist einigermaßen heftig.

127 Cuerpos” (127 Körper) heißt die minimalistische Installation der mexikanischen Künstlerin Teresa Margolles im Düsseldorfer Kunstverein. Sie besteht aus Fäden, die zur Autopsie von 127 bei Gewalttaten zu Tode gekommenen Menschen benutzt wurden. Am Ende der Untersuchung, also nach dem Vernähen der geöffneten Leichen, werden die Fäden abgeschnitten. Diese Reste sammelte die Künstlerin am Boden der Operationsräume auf und verknotete sie zu dem langen Faden, der nun in Düsseldorf zu sehen ist. Vorher wurden sie desinfiziert. Daraus erklärt sich der strenge Geruch in der Ausstellung.

Bereits seit Anfang der Neunzigerjahre arbeitet Teresa Margolles mit Toten und den Spuren, die sie hinterlassen. 2002 bestrich sie für ihr Kunstwerk “Secreciones Sobre El Muro” (Absonderungen auf der Mauer) in Berlin eine 20 Meter lange Wand mit Körperfett, das bei Schönheitsoperationen abgesaugt worden war. 2004 zeigte das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt eine umfassende Einzelausstellung mit Werken von Margolles – eine der wenigen Ausstellungen, bei denen wohl mit Sicherheit zu sagen ist: Wer es gesehen hat, wird es nicht vergessen.

In der Haupthalle des Museums wurden maschinell Seifenblasen in die Luft geblasen. Das war wunderhübsch und leicht. Dann erfuhr die Besucherin, dass das Wasser dieser Seifenblasen aus dem Leichenschauhaus in Mexiko-Stadt stammt und zur Reinigung von Leichen vor der Obduktion diente. Jede Seifenblase sollte ein vergängliches Denkmal für einen der vielen anonymen in Mexiko-Stadt umgekommenen Menschen sein. Dass das Wasser desinfiziert worden war, spielte kaum noch eine Rolle – der irrationale Impuls, die eben auf der Wange zerplatzte Seifenblase panisch wegzuwischen, war kaum zu unterdrücken.

Zentral in Margolles’ Werk ist die Beschäftigung mit Menschen am Rande der Gesellschaft, mit den vielen Namenlosen, die täglich durch Gewalteinwirkung sterben – auf den Straßen ihrer Heimatstadt Mexiko-Stadt ist dies ein besonders brennendes Thema, doch immerhin leben auch in Deutschland nach vorsichtigen Schätzungen rund 600.000 Menschen auf der Straße, um deren Leben sich die Gesellschaft wenig schert. An all diese Menschen will Margolles erinnern, und sie tut es, indem sie den direktesten Weg wählt: Sie bringt die Lebenden ohne Vorbereitung in unmittelbaren Kontakt – in Berührung – mit den Toten.

Bei “Aire” in derselben Ausstellung im MMK war der Raum vollkommen leer, bis auf das kleine Bilderschild mit dem Titel und Angaben zu Technik und Material des Werkes: Die Luft des Raumes wurde über zwei Geräte mit dem Wasser befeuchtet, das bei der Waschung von Toten vor der Obduktion aufgefangen worden war. Ehe man dies las, hatte man das Kunstwerk schon eingeatmet. Die Spuren der Toten ergeben in den Seifenblasen noch ein poetisches Bild. In “Aire” manifestieren sie sich plötzlich in der Atemluft der Lebenden und werden so Teil von ihnen, ob diese wollen oder nicht. Denn was der Tote nicht mehr kann, muss der Lebende: atmen.

Teresa Margolles arbeitet auch mit noch krasseren, noch expliziteren Mitteln. So zeigte sie beispielsweise die blutverschmierten Kleider tödlich verunglückter Kinder. “Entierro/Burial” von 1999 ist nicht nur eine an Minimal Art erinnernde Plastik aus einem flachen, unscheinbaren Betonquader, sondern tatsächlich ein Sarg. Nach einer Fehlgeburt bat eine Frau die Künstlerin, ihr ungeborenes Kind nicht im Krankenhaus entsorgen zu lassen. So schuf Margolles ein Betongrab, in dem der Fötus in einer mit einer Luftschicht isolierten Höhlung ruht. 2000 ließ sie der Leiche eines getöteten jungen Heroinsüchtigen die gepiercte Zunge entnehmen und stellte sie als Kunstobjekt aus. Dafür finanzierte sie seiner hinterbliebenen mittellosen Familie einen Sarg.

Ist dies ethisch vertretbar? Subtil oder effekthascherisch? Hochpolitische Kunst oder nur unfassbar geschmacklos? Eine wohlargumentierte Entscheidung zu treffen ist enorm schwierig. Ohne Zweifel rührt Teresa Margolles an einem der großen Tabus unserer Gesellschaft: dem allgegenwärtigen Tod und unseren Berührungsängsten damit. Dass sie dabei als Grenzgängerin angreifbare Strategien wählt, versteht sich von selbst, ist notwendiger Teil ihrer Arbeit. Selten jedenfalls kommt es heute vor, dass Kunst ebenso sehr als ästhetisch befriedigende Kunst wie soziale Fragestellung funktioniert und dabei gleichzeitig an tief verborgene innere Widerstände rührt.