Alke Reeh

When analysis becomes form

in: Alke Reeh - so oder so, Kat. Kulturforum/Alte Post, Neuss 2011

In der Bildhauerei spielt die negative Form – der Raum, der eine Skulptur umgibt beziehungsweise sie durchdringt – eine ebenso große Rolle wie die positive Form, also die körperliche Substanz der Plastik. Häufig sind es gerade die negativen Räume, zum Beispiel Löcher, Spalten, Schlitze, Zwischenräume aller Art, die eine Skulptur erst zum räumlich erfahrbaren Ding machen, das den vorhandenen Raum durchdringt und formt. Im Werk von Alke Reeh ist dieses Bewusstsein für positive und negative Räume und ihre genaue Erforschung zentral.

Seit langem interessiert sich Alke Reeh für die „Analyse von Formen“, wie sie es selbst nennt: Wie entsteht eine Form? Wie verhalten sich verschiedene Formen zueinander? Innerhalb welcher Strukturen entstehen Formen, und ab wann nimmt man mehrere Formen als Struktur wahr? Was bedeutet in der Wahrnehmung die Verschiebung des Blickwinkels? Welche Rolle spielen Symmetrie, Mathematik und wo verläuft die feine Linie zwischen Ordnung und Unordnung, Struktur und Chaos?

Als ein zentrales Mittel für die Analyse all dieser Überlegungen hat die Künstlerin die vermeintlich simple Form der Falte und die einnehmende Struktur des Ornaments gefunden. Beiden wohnt der Gegensatz von Innen und Außen, Negativ und Positiv inne. Und beide haben die Eigenschaft, Raum umschließen und durchdringen zu können. Zudem haben sowohl Ornament als auch Falte ihren festen Platz in der Kunstgeschichte, die Falte im Bereich der Bildhauerei – man denke an die hochkomplexen Faltenwürfe in den Gewändern hochgotischer Skulpturen – oder auch der Malerei – zum Beispiel die prächtigen Faltenwürfe Vermeers –, das Ornament besonders in der Architektur, wie im muslimischen Sakralbau. (Jedoch bezeichnete auch im europäischen Mittelalter das gegenstandslose Ornament über einer Figur eine größere Gottesnähe als beispielsweise eine figürliche Darstellung.)

Indem Alke Reeh Faltung und Ornament in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stellt, hat sie nicht nur das für sie perfekte Werkzeug gefunden, um ihre Bildforschungen voranzutreiben, sie erreicht auch eine Synthese aus bild- wie baukünstlerischen Methoden, die naturwissenschaftliche Vorgehensweisen mit einschließen. Neben Faltungen und Ornamenten sind Kuppeln ein wiederkehrendes Motiv in ihrem Werk, und so wie sich die Falte in unterschiedlichsten Formen und Materialien im Werk der Künstlerin niederschlägt, so findet sich die Kuppel nicht nur als klassische architektonische Form wieder, sondern auch in Form einer Tasse, eines als Rock getragenen Blumenübertopfes oder als Zwitter aus Tasse und Moscheekuppel, überzogen von Ornamenten. Während die Falte Raum durchdringt und gestaltet, zeichnet die Form der Kuppel aus, dass sie Raum umfängt und diesen, sie ausfüllenden („negativen“) Raum, der vermeintlich „leer“ ist, gleichsam als kompakte Form erscheinen lässt. Wie sehr sich dieser an sich nicht gestaltete Innenraum durch die ihn umgebende Form verändern lässt, zeigen Bilder, in denen die Künstlerin anstelle der Kuppel Kaffeetassen montiert hat: Zwar fügen sich diese erstaunlich geschmeidig in die Architektur der jeweiligen Moschee oder Kirche ein, sobald jedoch das Gehirn die Information verarbeitet hat, dass hier eine kleine Keramikform statt einer mächtigen Bauform zu sehen ist, ordnet es auch den sichtbaren Raum anders ein. Das Wissen um die Unterschiedlichkeit der Dimensionen und Materialien irritiert und verändert den Blick entscheidend.

Ein besonderer Reiz solcher Montagen liegt zum einen in der Spannung im Größenverhältnis, zum anderen in der Verbindung von Mustern und Formensprachen, die als aus unterschiedlichen Kulturkreisen stammend wahrgenommen werden. Doch geht es hier nicht um einen Beitrag zum postkolonialen Diskurs, vielmehr ist Alke Reeh bei der Erforschung der Ordnung der Dinge auf ‚Universalformen’ gestoßen, die alle Epochen und Kulturen gemeinsam zu haben scheinen und die gerade deshalb von besonderem Interesse für sie sind. Indem – nicht zuletzt an ihrer ornamentalen Gestaltung – deutlich wird, dass die gezeigten Formen unterschiedlicher kultureller Herkunft sind, werden sie als so etwas wie universelle Formen erkennbar. Die kulturelle, sakrale oder säkulare, Zuordnung ist deshalb nicht als Hinweis für eine mögliche Lesbarkeit des jeweiligen Bildes wesentlich, sondern entfaltet ihre Bedeutung in der Funktion als Referenz innerhalb eines Referenzsystems, auf das wir alle bei dem Versuch, die uns umgebende Welt zu verstehen, zurückgreifen.

Die fast vier Meter im Durchmesser messende „Decke genäht“ gewinnt ihre Komplexität durch eben dieses künstlerische Bewusstsein für das Referenzsystem, das wie eine Matrix unserem Denken und Wahrnehmen unterlegt ist. „Decke genäht“ besticht auf den ersten Blick durch seine harmonische Gestaltung aus runder Grundform und symmetrischem Muster aus verschiedenen Faltungen. Diese strukturelle Ordnung schmeichelt dem Auge und der Wahrnehmung und ruft Assoziationen mit gotischen Fensterrosetten auf – die zurückgenommen Farbe unterläuft dies übrigens nicht, erlaubt sie doch die Erinnerung an ein unbeleuchtetes, von außen betrachtetes Kirchenfenster. Nur diesem Eindruck ganz entgegen steht die Textur der weichen Decke, aus der die Arbeit besteht.

„Decke genäht“ ist aus Gebrauchstextilien entstanden und verheimlicht dies auch in seinem Erscheinen nicht. Nun zeigt das Werk schon im Titel an, dass es nichts anderes sein will als genau das: eine Decke. Die vermeintlich einfache Benennung führt aber aufs Glatteis, denn sie spielt mit der Doppeldeutigkeit des Wortes „Decke“, das zum einen eine Bettdecke, zum anderen eine Zimmerdecke bezeichnen kann. Das Objekt kann also sowohl als Textil als auch als architektonisches Element gedacht werden. Für ersteres spricht seine Textur, für letzteres zweifellos seine Struktur. In beiden Fällen wäre jedoch wohl die Horizontale die erwartete Präsentationsform, „Decke genäht“ aber zeigt sich in der Vertikalen, an die Wand angebracht – also eigentlich auf die unwahrscheinlichste Weise.

Wieder werden bei der Betrachtung verschiedene Referenzen – Architektur, Glaskunst, Haushaltstextilien, Handarbeit, geometrische Ordnung – herangezogen, die nicht zueinander passen wollen, sich aber zu einem Ganzen fügen, indem sie schließlich den Blick freigeben auf das, was im Raum tatsächlich zu sehen ist: ein komplexes Objekt, das uns trotz der Vertrautheit der Formen und Materialien, aus dem es gemacht ist, neu und fremd erscheint.

Hand- bzw. Textilarbeit tritt in Alke Reehs Werken nicht nur als besondere Fertigkeit, sondern auch in ihrer Bedeutung als vielschichtiges Ordnungsprinzip ins Bewusstsein. Ohne ein überlegtes Vorgehen, einen Plan, ein Nähmuster ist Handarbeit nicht denkbar. Dessen ungeachtet ist Textilarbeit immer noch ein vergleichsweise wenig anerkanntes Handwerk, was zweifellos mit seiner überkommenen Konnotation als „typisch weibliche“ Fertigkeit zu erklären ist. Aber ebenso wenig wie das Mitdenken des postkolonialen Diskurses bei der Deutung von Alke Reehs Arbeiten hilft, gäbe die Verfolgung des Gedankens an weibliche Zuschreibungen und Rollenmuster hier weiteren Aufschluss. Wieder geht es ganz allein um formale Aspekte. Die Weichheit des Materials steht der Strenge der Struktur entgegen und erlaubt Formungen und Faltungen, die sich geradezu zwingend ergeben. Das Vernähen schließt sie zu einem bewusst Verfügten zusammen.

In der fotografischen Serie „Einblick – Ausblick“ hat Alke Reeh Aufnahmen von Innen- und Außenräumen – darunter sowohl vertraute deutsche Landschaften als auch indische Häuserfassaden – mit ornamentalen Mustern bestickt. Manche Bilder werden von Blümchen bedeckt, andere von einem engmaschigen, löchrigen Gitter überzogen. Zum Teil hängen noch die Fäden herunter, als habe die Künstlerin keine Zeit gehabt, diese abzuschneiden. Das ‚Handgemachte’ tritt dadurch besonders hervor und in Kontrast zu den nüchternen Fotografien. Während die Blümchen auf der Düsseldorfer Vorortidylle mit Partyzelt eine Verbindung zum nicht gezeigten Inneren der Häuser und ihrer womöglich stereotypen Einrichtung herstellt, antwortet der gestickte Gitterzaun auf die verschlossenen Fassaden von verrammelten Geschäften in Indien. In beiden Fällen spielt Alke Reeh mit der Vorstellung von Innen und Außen und nutzt das Ornament als durchsichtigen Vorhang, der verdeckt und enthüllt zugleich. Der Raum zwischen den Maschen ist genauso wichtig wie der Raum dahinter oder der davor, der reale Raum von derselben Relevanz wie der fiktive. Alke Reeh gibt keine Hierarchie vor, sondern bietet eine vorübergehende Ordnung an – die Analyse der Formen ist noch längst nicht abgeschlossen.