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Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schaffen
erschienen in: Martin Werthmann, Katalog, Hamburg 2009, online: worldplanningoffice.com

Martin Werthmann wird oft von dem – im weitesten Sinne - Mangelhaften, dem Fehlerhaften angezogen. Besonders eindrücklich tritt diese Faszination zutage bei den Hunde-Skulpturen, die seit 2006 entstehen. Nur auf den allerersten Blick wirken diese Hunde wie Stofftiere, schon der zweite Blick offenbart einigermaßen verstörende Mängel: nicht nur fehlen dem Hund jeweils Ohren, Augen und Maul, er hat auch nur drei Beine – eines der Hinterbeine wurde ihm anscheinend gewaltsam ausgerissen.

Zumeist aus in Wachs getauchter Baumwolle bestehend, sind die Hunde von ambivalenter Materialität: einerseits nachgiebig und weich, andererseits durch das Wachs mit einer abweisenden Schicht versiegelt, die nur durch die klaffende Wunde an Stelle des ausgerissenen Beins aufgebrochen ist, aus der die Füllung quillt. Der Künstler verweist im Zusammenhang mit seinen Hunde-Skulpturen auf Samuel Becketts Einakter „Endspiel“ (1957), in dem ein schwarzer Plüschhund vorkommt, dem ein Bein fehlt. Dieser jedoch wird in dem Stück als „noch nicht fertig“bezeichnet. Ließe sich daraus folgern, dass Martin Werthmanns Hund auch noch auf seine Vollendung wartet? Kaum. Denn es gibt ihn in vielfacher Ausführung und nicht zuletzt sogar in Blei gegossen („o.T. (Bleihund)“, 2006) – untrügliche Zeichen für sein Vollendetsein und dafür, dass es der vermeintliche Makel der Dreibeinigkeit sein könnte, der den Künstler hier interessiert. Oder ist es das Fehlen selbst, dem hier eine Form gegeben wird?

Vieles spricht dafür, denn bei der Betrachtung von Werthmanns Werk fällt auf, dass das Fehlen, die Abwesenheit von etwas – oder von jemandem – immer wieder im Zentrum seiner Arbeiten steht: der unbesetzte Schreibtisch, der nicht nur den Sitz des Denkers anzeigt, sondern im Zusammenhang mit der Ausstellung gleichsam als Altar positioniert ist, dahinter der leere Stuhl als Zeichen der Abwesenheit des Planers, des „Kopf des Ganzen“, das bekrönte Schaf, das, auf ein Rollbrett geschraubt und ohne Herde, Macht und Ohnmacht zugleich in sich verkörpert, und schließlich das – freilich im konventionellen Sinne unspielbare – Schachspiel ohne Spieler. Innerhalb dieses laborartigen Settings treten an die Stelle des abwesenden Menschen oder Gegenstandes unterschiedlichste Dinge: eine Frage, ein Vakuum, ein Erklärungsversuch, vielleicht ein Hinweis. Jedes von Martin Werthmanns Werken kann hier als Beitrag zu einer andauernden Diskussion zwischen dem Künstler und der Welt gelesen werden.

Dies drückt sich ebenso in der aktuellen Ausstellung aus, in der Werthmann auf selbstgefertigten Sockeln, die auch als Transportkisten oder Regale dienen, nicht nur vollendete Arbeiten wie die energiegeladenen - und darum folgerichtig mit einer Steckdose versehenen – Bleiskulpuren (Zornspeicher, 2008), zeigt, sondern daneben auch Bestandteile seines alltäglichen Lebens wie den Herd mit Kochtopf (zugleich Verweis auf den Künstler als Alchemist in seinem Labor) und darüber hängender Beuys- Grafik. – Das Prozesshafte des künstlerischen Denkens und Schaffens, die Notwendigkeit des pausenlosen neuen Verhandelns von Ideen und Fragestellungen wird in diesem unhierarchischen Nebeneinander besonders evident und als etwas Gegebenes deklariert. Seine Gewissheit um die Endlosigkeit dieses „Verhandelns“ drückt sich nicht zuletzt in Werthmanns Interesse für zirkuläre Bewegungen aus, so beispielsweise in der Installation „Panzer auf Laufband“ (2008), bei der sich ein kleines Panzermodell auf einem Fitnessgerät abmüht.

Räder, Strudel und Rollen gehören ebenfalls zum Formenrepertoire des Künstlers – jedoch: der Panzer kommt trotz ununterbrochener Anstrengung auf dem Laufband nicht von der Stelle, und das Schaf („Das tote Leitschaf “, 2008) kann sich nicht aus eigener Kraft auf dem Rollbrett fortbewegen. Weder technische Ausstattung noch die Insignien der Macht ermöglichen ein Vorwärtskommen. Wie ein Kommentar zu seiner künstlerischen Herangehensweise wirkt Werthmanns Video „Parlament“ von 2007, in dem die manchmal lebhaften, manchmal zähen Debatten britischer Abgeordneter zu sehen und zu hören sind. Das Parlament dort, das Atelier hier – dort wie hier muss die Wirklichkeit (oder was immer wir dafür halten) stets neu erörtert, debattiert und definiert werden. Und weil Martin Werthmann Bildhauer ist mit einer starken und in seinen Werken stets deutlichen Faszination für die Beschaffenheit und Ambivalenz von Material, sind seine Beiträge zu dieser Debatte visueller, plastischer, haptischer Natur. Ganz gleich jedoch, in welcher Form sie geführt wird, am Ende einer jeden Debatte muss eine Entscheidung stehen – die jederzeit angefochten werden kann. Von allen. Nicht zuletzt vom Sieger der Debatte selbst.


The gradual fabrication of thoughts during creation

published in: Martin Werthmann, Katalog, Hamburg 2009, online: worldplanningoffice.com

Martin Werthmann is often drawn to the defective and the flawed. This fascination emerges particularly clearly in the dog sculptures, which have been in production since 2006. Only at first glance, do these dogs resemble cuddly toys. A closer look reveals somewhat unsettling flaws: not only does the dog lack ears, eyes and muzzle, but he only has three legs – one of his hind legs seems to have been violently torn off. Mainly consisting of cotton dipped in wax, the dogs material is somewhat ambivalent: on the one hand pliable and soft, but on the other, sealed by a repellent layer of wax which is only broken by the gaping wound where the torn off leg should be and stuffing bursts out.

The artist’s dog sculptures are a reference to Samuel Beckett’s single act play ‘Endgame’ (1957), which features a cuddly toy dog with a missing leg. In Becketts work the dog is described as „not yet ready.“ Is Martin Werthmann’s dog also waiting to be finished? Hardly. He comes in a variety of formats, even cast in tin („o.T. (Tin Dog)“, 2006) - unmistakable signs of his completeness, and indicative that it could be the intended flaws of three legedness that draw the artists attention. Or is it absence itself which Werthmann dares to bring to light? A lot speaks for this interpretation.

When viewing Werthmann’s work, it becomes apparent that deficiency, the absence of something –or someone – repeatedly reoccurs as a central theme in his work: the unoccupied desk, which not only suggests the thinker’s seat, but also in the context of the exhibition, is also somehow positioned as an altar. Behind it, the empty stool as a symbol of the constructor, the planner the ‚head of it all.’ The crowned sheep, which is screwed onto a skateboard and missing its herd, symbolises power and powerlessness simultaneously, and ultimately, (admittedly not playable in the conventional sense) chess without players. Within this laboratory-like setting, the most diverse things take the place of absent people or objects: a question, a vacuum, an attempt at explanation, perhaps a clue.

Each of Martin Werthmann’s works can be read as a contribution to an ongoing discussion between the artist and the world. This is also expressed in the current exhibition, in which Werthmann not only shows completed works (displayed on homemade pedestals, which also serve as removal cartons or shelves), such as the energy-laden (and thus also equipped with plug) tin sculpture (Anger Repository, 2008), but also objects from his everyday life, such as the cooker with cooking pot (also a reference to the artist as alchemist in his laboratory), and the Beuys image hanging above it.

The evolution of artistic thought and creation, the necessity of the unrelenting, new negotiation of ideas and questions, is particularly evident in this non-hierarchical co-existence and declared as something given. Werthmann’s certainty of the endlessness of ‚negotiation’ is not only expressed in his interest in circular movements, as exemplified in the installation ‚Tank on a treadmill’ (2008), in which a small model tank struggles on a treadmill. Wheels, swirls, and curls also belong to the artist’s formal repertoire. But the tank does not move from its position, despite uninterrupted effort on the treadmill, and the sheep (‚The Dead Head Sheep’ 2008) can’t move forward on the skateboard using its own strength. Neither technical equipment nor insignias of power allow any progress.

Werthmann‘s video, ‚Parliament‘ from 2007, is like a commentary on his artistic approach, in which British members of parliament engage in sometimes tough and lively, othertimes dull and stagnant debates. The parliament there, the studio here - there, like here, reality (or what we percieve it to be) must always be discussed, debated and defined. And because Martin Werthmann is a sculptor with a strong and always clear fascination for the consistency and ambivalence of the material in his work, his contributions to this debate are of a visual, plastic, haptic nature. At the end of the day, however, the manner, material and form is irrelevant because ultimately every debate is destined to end with decision – a decision only to be contested again. By everyone. Not least the winner of the debate him/herself.

Translation: Maisie Hitchcock