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Von gespannter Unbewegtheit
Gedanken zu den Gemälden von Victor Alimpiev

erschienen in: Victor Alimpiev, Malerei, Mönchengladbach 2011, o.S.

Victor Alimpiev ist nicht nur der Schöpfer von inzwischen weithin bekannten, poetisch-verrätselten Videoarbeiten, sondern auch ausgebildeter Maler. Unschwer ist dies an der präzisen Komposition und der spezifischen Farbigkeit seiner Videos ist zu erkennen: Hier schafft ein Maler wohldurchdachte Bilder, die sich mit den für die Malerei charakteristischen Fragen nach dem Verhältnis von Farbe, Form, Bildträger und Betrachter auseinandersetzen. So ist es keineswegs überraschend, dass wiederum in den Gemälden Alimpievs – bei aller Unterschiede zwischen den Medien – dieselben Aspekte und Phänomene von Bedeutung sind wie in seinen Videos: skulptural erscheinende Figuren, eine dezidierte Auseinandersetzung mit Raum und Zeit, die Isolierung von Gesten und Bewegung, die Verwendung von Rhythmik und lyrischen Mitteln.

Siegfried Kracauers Begriffe von „Ornament“ und „Masse“ stellen für Alimpiev einen wesentlichen Bezugspunkt dar. In den stark durchchoreographierten Videoarbeiten treten die einzelnen Akteure als Individuen hinter ihrer Eigenschaft als Teil einer Masse, als ‚skulpturales Material’, zurück. „Träger der Ornamente ist die Masse. Sie werden aus Elementen zusammengestellt, die nur Bausteine sind und nichts außerdem. Zur Errichtung des Bauwerkes kommt es auf das Format der Steine und ihre Anzahl an. (...) Als Massenglieder allein, nicht als Individuen, die von innen her geformt zu sein glauben, sind die Menschen Bruchteile einer Figur.“ 1 Dementsprechend werden Alimpievs Figuren in Arbeiten wie „Wetterleuchten“ (2005), „Wie heißt dieser Platz?“ (2006) oder auch „Vot“ (2009) zu bewegten Bildern von jeweils einem organischen Wesen mit ornamentalen Eigenschaften.

Obwohl sich die in Mönchengladbach entstandenen vermeintlich spröden Gemälde sowohl formal als auch ästhetisch stark von den lebendigen, pastellfarbenen Videos unterscheiden, ist auch hier der Bezug zum Begriff der Menschen als „Bruchteile einer Figur“ deutlich: Alimpiev selbst versteht seine Malerei als abstrakt. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass aus den Farbschichten schemenhafte Gestalten an die Bildoberfläche treten. Mal sind es nur zwei oder drei Köpfe, die man zu erkennen glaubt, dann bis zu sechs angedeutete Figuren, die einen Kreis zu bilden scheinen, aber bevor sich die Formen in Tun und Wesen festlegen ließen, ziehen sie sich auch schon wieder in den Farbraum zurück. Alimpievs Auffassung dieser Bilder als „abstrakt“ ordnet die geheimnisvollen Schemen eindeutig ihrer Funktion als „Bausteine und nichts außerdem“ zu.

Der Bezug zum umgebenden Bildraum ist unklar, auch dies eine Gemeinsamkeit mit den Videoarbeiten. Während Alimpiev den bewegten Bildern mit dem Chromakey-Verfahren Farbwerte entzieht, fügt er seinen Gemälden Farbschicht um Farbschicht hinzu – nach Auskunft des Künstlers sind es bis zu 15, die er in einem Bild übereinanderlegt. Die darin liegenden feinen Konturen deuten nicht nur Formen und Gestalten an, sondern öffnen auch den Blick hinein in den Raum des Bildes, der jedoch ebenso wenig ein definierter Raum ist wie die Schemen konturierte Figuren sind.

Der Aspekt der Zeit, welcher der Malerei im Gegensatz zum Video nicht innewohnt, hat für Victor Alimpiev zentrale Bedeutung. Der Künstler nennt es den „ewigen Moment“ in der Malerei und in der Skulptur. Damit bezeichnet er etwas, das schon Lessing mit seinem berühmten und ungemein einflussreichen Begriff des „fruchtbaren Augenblicks“ beschrieben hat: „Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden: so ist es gewiss, dass jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann.“ 2

Zwei Aspekte sind hier im Hinblick auf Alimpievs Arbeit von besonderem Interesse: zum einen unterscheidet Alimpiev zwischen dem „ewigen Moment“ in der Malerei und demjenigen in der Skulptur. Während Lessing darauf hinweist, dass die Malerei „nur aus einem einzigen Gesichtspunkte“ etwas zur Darstellung bringen kann, beschreibt Alimpiev eine Skulptur als etwas, das der Erdanziehungskraft unterliegt und über die Spannung ihres Materials verfügt und, selbst wenn sie abstrakt ist, das Körperliche aktiviert. Daher habe eine Skulptur immer Kraft, Macht und Totalität. „Wichtig ist, dass die Unbeweglichkeit der Skulptur eine angespannte Unbeweglichkeit ist. (...) etwas leicht Ausgedehntes, wie Erzittern.“ 3 Diese körperliche Qualität der Skulptur überträgt Alimpiev in seine Videoarbeiten, in denen sich wiederum der „ewige Moment“, die „angespannte Unbewegtheit“ auflöst bzw. dehnt, scheinbar bis ins Endlose.
Der andere wesentliche Aspekt im Zusammenhang mit Lessings „fruchtbarem Augenblick“ stellt die unterschiedliche Motivation dar: Während Lessing von einem Erzählenwollen im Augenblick ausgeht, strebt Alimpiev die radikale Reduktion einer möglichen bildlichen Narration (bestehend aus Raum, Zeit und Akteur) auf einen einzigen – nichterzählerischen – Moment an.

Dieses Verdichten eines bewegten theatralischen Arrangements auf einen nichterzählerischen „ewigen Moment“ erreicht Alimpiev mittels der Hervorhebung bzw. Isolierung einzelner Gesten. Die Hervorhebung geschieht entweder anhand der Kameraführung oder aber durch die sehr genaue Choreographie, die bestimmte Bewegungen der Akteure besonders betont. Die Wiederholung spielt hierfür eine zentrale Rolle, ebenso wie für die Isolierung einzelner Gesten, die dadurch ihren Kontext verlieren und zu reinen Formeln werden, ihrer Funktion als Gefühlsausdruck entleert. Das lässt an Aby Warburgs „Pathosformeln“ denken, der diese als kulturell codierte Darstellungen bestimmter emotionaler Zustände verstand, welche damit identifizierbar werden. 4 Bei Alimpiev können zwar verschiedene solcher Pathosformeln identifiziert, aufgrund der Verunklärung von Raum und Zeit jedoch nicht in einen Zusammenhang eingeordnet werden. Dieses Verfahren führt zu der für Alimpievs Werk so charakteristischen Verrätselung, die mitunter fast hermetisch – den Betrachter ausschließend – wirkt. Vermeintliche Rituale geben nicht preis, wofür sie stehen, genauso wenig wie die gezeigten Akteure zu erkennen geben, welcher Masse, welcher Gruppe oder Gesellschaft sie eigentlich als Teilchen angehören. Damit entsteht zwischen dem Bild und dem Betrachter eine nicht überbrückbare Distanz, die auch an die unauflösliche Distanz zwischen dem Individuum und der Masse in einem totalitären System erinnert, zu der die einzige Alternative die Selbstaufgabe in der Masse ist.

Die häufigen Wiederholungen, die Rhythmisierung der ‚Teile des Ganzen’ teilen Victor Alimpievs Arbeiten nicht nur mit Werken der darstellenden Künste, also des Theaters oder des Tanzes, sondern auch mit sprachlichen Kunstwerken. Er selbst weist immer wieder auf sein Interesse an Poesie und auf die Beziehung seiner Arbeiten zur Dichtkunst hin. Auch das betrifft nicht nur seine zeitbasierten Werke, die mit Gedichten oder Prosatexten die Eigenschaft teilen, sich sozusagen entlang einer zeitlichen Linie zu entfalten, im Gegensatz zum statischen Einzelbild, das sich dem Betrachter auf den ersten Blick zur Gänze präsentiert, dann jedoch nichtlinear erschlossen wird. Durch die starke Rhythmisierung der Formen und Farben erreicht Alimpiev in seinen „abstrakten“ Bildern so etwas wie die Illusion einer Bewegung, die zugleich eingefroren ist – im Grunde also handelt es sich um das Paradoxon einer im selben Moment begonnenen und angehaltenen Bewegung. Dies ist es womöglich, was Alimpiev als die„angespannte Unbewegtheit“ oder den „ewigen Moment“ in seinen Bildern anstrebt. Dazu trägt besonders das Prinzip der Wiederholung bei, das Alimpiev nicht nur in seinen Videos verwendet, sondern auch und gerade in der Malerei. In einem einzelnen Bild erscheint derselbe Umriss oder dieselbe Form mehrfach. Es handelt sich jedoch niemals um eine exakte Wiederholung, nicht um eine Kopie der vorhergehenden oder nebenstehenden Form, so wie auch Wiederholungen in einem Gedicht nicht Kopien sind. Einzelne Formen erscheinen immer wieder und strukturieren das Bildgeschehen, gleich dem wiederkehrenden Refrain, der das Lied strukturiert, oder die Verse, die das Gedicht zu einem Ganzen zusammenfügen.


1 Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse (Erstveröffentlichung 1927), in: Das Ornament der Masse – Essays, Frankfurt/M. 1963, S.51
2 Lessing, G.E.: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und der Poesie (Berlin 1766),
Abschnitt III, S.35.
3 Vgl. Interview mit Olga Stolpovskaya, in: Kat. 52. Internationale Kurzfilmtage, Oberhausen 2006, S 144-146.
4 Vgl. Hierzu Ulrich Port, “Pathosformeln” 1906-1933 – Zur Theatralität starker Effekte“, in: Erika Fischer-Lichte (Hg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation, Stuttgart/Weimar 2001, S. 226-251.




Of Tense Immobility
Some Thoughts on Victor Alimpiev’s Paintings

published in: Victor Alimpiev. Painting, Mönchengladbach 2011

Victor Alimpiev is not only the creator of now widely known, poetically enigmatic video work, he is also a trained painter. It is easy to see from the precise composition and colorful nature of his videos that we have a painter here who creates well-thought-out images that explore that those relationships betweens colour, form, image media and observer that are so characteristic in painting. And so it comes as no surprise that in turn Alimpiev’s paintings – despite all the differences between the media – display the same key aspects and phenomena as his videos: sculptural-looking figures, a decided exploration of space and time, the isolation of gestures and movement, the use of rhythmics and lyrical means.

Siegfried Kracauer’s notions of “ornament” and “mass” constitute a key point of reference for Alimpiev. In his heavily choreographed video works the different figures recede behind their characteristics as individuals into part of a mass, a ‘sculptural material’. “The bearers of the ornaments are the masses. (…) They are composed of elements which are mere building blocks, nothing more. The construction of an edifice depends on the size of the stones and their number. (...) Only as parts of a mass, not as individuals who believe themselves to be formed from within do people become fractions of a figure.” 1 Consequently, Alimpiev’s figures in works like Wetterleuchten (2005), Wie heißt dieser Platz? (2006) or even Vot (2009) become animated images of in each case one organic being with ornamental characteristics.

Although the seemingly aloof paintings produced in Mönchengladbach greatly differ both formally and aesthetically from the lively, pastel-coloured videos here, too, the reference to the notion of humankind as a “fraction of a figure” is clear: Alimpiev himself sees his painting as abstract. Nevertheless, it cannot be denied that from the layers of colour shadowy shapes rise up to the picture’s surface. Sometimes you think you can make out only two or three heads, then there are up to six implied figures that seem to form a circle. Yet before the shapes might be affixed to actions and beings they withdraw back again into the coloured space. Alimpiev’s understanding of these pictures as “abstract” clearly allocates the mysterious silhouettes to their function as “building blocks, nothing more”.

The relationship to the surrounding space is unclear and this, too, is an aspect shared with the video works. While Alimpiev strips the moving images of colour tone using the Chromakey process he adds layer upon layer of colour to his paintings – according to the artist there are up to 15 superimposed layers in any one picture. The fine contours here not only indicate forms and shapes but open up a vista into the picture space which is nevertheless as undefined as the silhouette-contoured figures.

The aspect of time – not inherent to painting like it is to video – is of key significance for Victor Alimpiev. The artist calls it the “eternal moment” in painting and sculpture. Here he designates something that Lessing already described with his famous and enormously influential notion of the fruitful or “happy moment”: “If the artist, out of ever-varying nature, can only make use of a single moment, and the painter especially can only use this moment from one point of view, whilst their works are intended to stand the test not only of a passing glance, but of long and repeated contemplation, it is clear that this moment, and the point from which this moment is viewed, cannot be chosen too fruitfully.” 2

Two aspects are of particular interest in relation to Alimpiev’s work: firstly, the artist differentiates between the “eternal moment” found in painting and that found in sculpture. While Lessing points out that painting can depict something “only from one point of view”, Alimpiev describes a sculpture as something that is subject to gravity, that has the tension of its material at its disposal and while abstract it still activates the corporeal. For this reason, he says, a sculpture always has power, might and totality. “It is important that the immobility of the sculpture is a tense immobility. (...) something slightly distended, like trembling.” 3 Alimpiev in turn transposes this corporeal quality in sculpture onto his video works by dissolving or rather extending the “eternal moment”, the “tense immobility”, seemingly ad infinitum.
Constituting another key aspect in connection with Lessing’s “fruitful moment” are differences in motivation: while Lessing departs from a wish for narration in the moment, Alimpiev strives for the radical reduction of any possible pictorial narration (consisting of space, time and actor) into one sole – non-narrative – moment.

Alimpiev achieves this consolidation of a moving, theatrical arrangement into a non-narrative, “eternal moment” by emphasising or rather isolating individual gestures. This emphasis is achieved either by the camera work or else very precise choreography that stresses the particular movements of the actors. Repetition also plays a central role in the isolation of individual gestures that lose their context and become pure notational formulas devoid of their function of emotional expression. This is reminiscent of Aby Warburg’s “Pathosformeln” or forms of emotional style. He saw these formulas as culturally coded representations of particular emotional states – which thereby made them definable. 4 With Alimpiev different forms of emotional style may be discernable due to the blurring of space and time but they are not arranged into a context. This method leads to mystification so typical in Alimpiev’s work – mystification that sometimes looks almost hermetic – excluding the observer. Supposed rituals do not reveal what they stand for and the featured actors do not reveal what mass, group or society they actually belong to as particles. This gives rise to an unbridgeable gap between the picture and the observer – one that is also reminiscent of the irresolvable distance between the individual and the masses in a totalitarian system where the only alternative is to surrender oneself to the masses.

Victor Alimpiev’s works share their frequent repetitions – the rhythmisation of the ‘parts of the whole’ – not only with works of performing arts, i.e. theatre or dance, but also with linguistic works of art. He himself often mentions his interest in poetry and the relationship between his work and this artistic medium. This, too, not only applies to his time-based works which like poems or prose unfold along a time line, so to speak, as opposed to a sole static image presented to the observer in its totality at first glance which is then developed in a non-linear manner. Through the strong rhythmisation of the shapes and colours in his “abstract” pictures Alimpiev achieves something like an illusion of movement that is frozen at the same time – basically therefore a paradox of a movement started and halted in one and the same moment. This is perhaps the “tense immobility” or “eternal moment” that Alimpiev strives for in his pictures. Particularly contributing to this is the principle of repetition used by Alimpiev both in his videos and also especially in his paintings. In one single picture the same contour or shape appears repeatedly. However, this is never exact repetition, never a copy of the previous or adjacent shape, just as repetitions are not copies in a poem. Individual shapes appear time and again and give structure to what is happening in the picture – like a recurring refrain that gives structure to a song or the verses that join a poem into a whole.


1 Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse (first published in 1927), in: Das Ornament der Masse – Essays, Frankfurt/M. 1963, p.51. English translation by Barbara Correll and Jack Zipes, The Mass Ornament (1975).
2 Lessing, G.E.: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und der Poesie (Berlin 1766),
Section III, p.35. English translation by E.C. Beasley, Laokoon: An Essay on the Limits of Painting and Poetry (London 1853) .
3 See interview with Olga Stolpovskaya, in: Cat. 52. Internationale Kurzfilmtage, Oberhausen 2006, pp. 144-146.
4 On this see Ulrich Port, “Pathosformeln” 1906-1933 – Zur Theatralität starker Affekte, in: Erika Fischer-Lichte (publisher): Theatralität und die Krisen der Repräsentation, Stuttgart/Weimar 2001, pp. 226-251.