Das radikale Denken und das Publikum

erschienen in: Kunstzeitung 169, September 2010, S. 10

Der Eintritt in deutsche Museen ist nicht frei. Das ist sehr schade, wird sich aber wohl erst mal nicht ändern. Einigkeit herrscht an deutschen Museen allerdings weitgehend darüber, dass zumindest grundlegende Informationen zur ausgestellten Kunst wie Führungen und Vermittlungsmedien umsonst oder zu einem sehr geringen Preis zugänglich sein sollten. Kataloge mit Essays und an ein Fachpublikum gerichtete Vorträge sind dann meistens kostenpflichtig. Umso überraschender ist es, wenn ein Projekt wie die diesjährige Berlin Biennale, die von der Leiterin der Bundeskulturstiftung Hortensia Völckers auf der Pressekonferenz zur Eröffnung als eines ihrer „Leuchttumprojekte“ bezeichnet wurde, es sich erlaubt, keinerlei Wandtexte oder ähnliches anzubieten. Wer mehr wissen wollte als Name, Titel und Technik, musste sich seine Neugier einiges kosten lassen: der Kurztexte enthaltende Katalog zur Ausstellung war für 15 Euro zu haben. Kommunikation und Vermittlung wurden hier offensichtlich nicht als notwendiger Teil der Ausstellung betrachtet.

Auf Nachfrage erklärt Gabriele Horn, Direktorin der KunstWerke Berlin, die quasi Gastgeber der Berlin Biennale sind: „Die Berlin Biennale versteht sich als ein Ausstellungsprojekt, das sehr stark vom künstlerischen Denken und der künstlerischen Produktion und weniger vom kuratorischen Diskurs bestimmt wird. Es ist uns ein großes Anliegen das offene und oft radikale Denken der Künstlerinnen und Künstler und deren Strategien einem breiten Publikum zu vermitteln.“ Das klingt wunderbar – die Kuratorin zieht sich hinter die Künstler zurück und lässt die Kunst zum breiten Publikum sprechen. Es gilt jedoch festzustellen, dass die Berlin Biennale weitgehend unbemerkt vom breiten Publikum über die Bühne gegangen ist. Außerdem: Naturgemäß besteht eine Lücke zwischen „radikalem künstlerischen Denken“ und gesellschaftlichem Konsens. Eine der Aufgaben des Kurators ist es, zwischen diesen beiden Positionen Brücken zu bauen. Leider geschieht dies nur allzu selten über klärende Worte, denn es ist nach wie vor weitverbreitetes Vorgehen, die Betrachter mit der fertigen Ausstellung mehr oder weniger alleine zu lassen. Die Kuratoren verlassen sich dann gerne auf die „Kraft der Kunst“.

Kein Wunder, dass sich viele der ungeübten (und auch der geübten) Betrachter zeitgenössischer Kunst unzulänglich fühlen, wenn sie angesichts kryptischer Videos und minimaler Skulpturen nur Bahnhof verstehen. Was ist so schlimm daran, den Ratlosen auf dem Weg zum Verständnis visueller Ausdrucksweisen Hilfestellung anzubieten (nicht aufzudrängen)?

Und trotzdem wird in Kuratorenkreisen über nichts verächtlicher gesprochen als über vermeintlich „didaktische“ Ausstellungen und diejenigen, die leichter zugängliche und vermittelbare Ausstellungen fordern. Keinesfalls soll dies hier nun ein Plädoyer für schneller konsumierbare oder einfachere Kunst sein. Indem sich aber Kuratoren für die über die Einrichtung der Schau, das Verfassen des Katalogtextes und die Diskussion mit Fachkollegen hinausgehende Vermittlung nicht interessieren, vergeben sie, die doch die privilegierte Position zwischen Künstler und Publikum innehaben, eine wichtige Chance, nämlich den Realitycheck der von ihnen ausgewählten Kunst – vermag es deren Kraft und Radikalität tatsächlich die Menschen zu erreichen? Und was bedeutet es, wenn dies nicht der Fall ist? Ja, das kann unangenehm sein, muss es aber nicht, denn letztlich sind gerade Ausstellungen zeitgenössischer Kunst doch in erster Linie als Vorschläge und Experimente zu sehen.

Wie wohltuend ist es, wenn im Ghenter S.M.A.K der Kurator Hans Theys für die noch laufende Sammlungspräsentation „Xanadu“ in einer für jeden Besucher verfügbaren Ausstellungszeitung in schlichten Worten, Raum für Raum, erklärt, warum er welches Werk ausgesucht hat und weshalb es mit bestimmten anderen Werken einen Raum teilt – der Prozess des Ausstellungsmachens wird transparent, die Perspektive des Kurators sichtbar, das bisweilen frustrierende Rätselraten über mögliche Verbindungen zwischen vermeintlich vollkommen unterschiedlichen künstlerischen Arbeiten fällt damit weg, man kann sich ganz auf die Werke selbst konzentrieren. Dass man dabei die Sichtweise des Kurators kennt, schadet nicht – anders als so oft behauptet, wird der Besucher dadurch nämlich eben nicht bevormundet, sondern im Gegenteil als mündiger Betrachter ernstgenommen, der sich in Kenntnis anderer Meinungen eine eigene bilden kann. Die immer und immer wieder bemühten Erklärungshülsen à la „Das Kunstwerk gibt keine Antworten, sondern wirft neue Fragen auf“ (die nicht weiter benannt werden) oder „Die Arbeit bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Abstraktion und Figuration, Realität und Fiktion sowie Poesie und Sachlichkeit“ kann man sich damit sparen. Solche Floskeln enthüllen in ihrer Belanglosigkeit nur das Unvermögen oder den Unwillen, die individuelle kuratorische Perspektive sichtbar zu machen und als Ansprechpartner nicht nur für die Künstler, sondern auch für die ganz normalen Betrachter zur Verfügung zu stehen.

Dass es auch anders geht, konnte man zum Beispiel im August in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe erleben. Bei der Museumsnacht traf man inmitten des Getümmels in den Ausstellungsräumen die Direktorin des Hauses, Prof. Pia Müller-Tamm. Im T-Shirt. Darauf stand: „Fragen Sie mich.“ Mit Vergnügen.

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