Durst nach Diskurs

erschienen in Kunstzeitung #165, Mai 2010, S. 28

Auf dem Kunstmarkt gilt Indien nun schon seit ein paar Jahren als das neue China. Und obwohl inzwischen auch schon längst der Nahe Osten als das neue Indien verkauft wird, ist die rasante Entwicklung in Indiens Ateliers und Galerie nicht nur immer noch überall zu spüren, sondern hält weiterhin an.

Der Blick der Künstler und Ausstellungsmacher ist nach Westen gerichtet, wo immer noch nationale Überblicksausstellungen wie „Indian Highway“ (zur Zeit in Oslo) und „The Empire strikes back“ (Saatchi, London) gezeigt werden, die zwar von vielen Indern mit Verve kritisiert werden. Dabei sein will aber trotzdem jeder.

Zunehmend allerdings richtet sich der Blick auch aufs eigene Land. Dabei wird endlich nicht mehr nur die künstlerische Produktion Indiens im Hinblick auf ihre Verkäuflichkeit ausgewertet, sondern mehr und mehr auch öffentlich über kuratorische Praxis und Kunstkritik nachgedacht. Das Bedürfnis nach einem eigenen Diskurs wird von den Protagonisten vor Ort deutlich artikuliert und ist in allen indischen Kunstzentren spürbar. Die da wären: Natürlich die Hauptstadt Delhi und natürlich die schillernde Metropole im Westen, Mumbai. Im Süden hat sich zudem in den letzten Jahren die IT-Hauptstadt Bangalore zu einem überaus lebendigen „Hot Spot“ für Künstler entwickelt.

Während Delhi und Mumbai über eine lebendige Galerienszene verfügen, die sich in den letzten Jahren zum Teil sprunghaft vergrößert hat, sind es mit SKE und der Galerie Sumukha genau zwei relevante Galerien, die ihre Basis in Bangalore haben. Interessanterweise hat anscheinend genau dieser Mangel an kommerziellen Kunsträumen zu der besonderen Dynamik in der dortigen Künstlerszene beigetragen, die einen Projektraum nach dem anderen eröffnet, was in Indien noch eher ungewöhnlich ist.

Schon seit längerem gibt es in Bangalore das offene Künstlerhaus 1Shanthiroad von Suresh Jayaram, in dem nicht nur permanent Künstler ein- und ausgehen, sondern auch Diskussionen und Ausstellungen angeboten werden. Zu den neueren Projekträumen gehört das von Suresh Kumar G initiierte „Samuha“, ein im Juni 2009 eröffneter für 414 Tage eröffneter Raum, den seine Mitglieder für jeweils 17 Tage nutzen können, um ihre Ausstellungen oder sonstige Projekte zu zeigen. Eine andere hochspannende Initiave ist Archana Prasads „Jaaga“, das nichts weniger sein will als ein „urbanes Community-Kunst-Architektur-Experiment“ und seine waghalsige Gerüst-Architektur in einer Baulücke als Café, Ausstellungsraum und Bühne zur Verfügung stellt. Allen Initiativen in Bangalore ist gemein, dass sie sich mit den rasanten Stadtentwicklungen, die oftmals als lebensfeindlich empfunden werden, auseinandersetzen – die Schlagworte sind „urban“, „community“ und „space“. Dabei verwischen die Grenzen zwischen sozialem Projekt und Kunst, und das ist natürlich gewollt.

Dass bei all diesen Initiativen und Projekten mitunter die Qualität auf der Strecke bleibt, ficht die Künstler nicht an. „Wir wollen einfach Raum bieten“, sagt Archana Prasad von „Jaaga“, und das heißt, einen Raum für jegliche künstlerische Äußerung. Und wo es ja auch weder öffentliche Räume – die staatliche Unterstützung für Künstler ist in Indien gleich Null, und die Nationalgalerien für moderne Kunst für das zeitgenössische Kunstgeschehen so gut wie bedeutungslos – noch kommerzielle Galerien gibt, werden solche Räume dringend benötigt.

Nicht nur in Bangalore, sondern auch in den anderen Städten Indiens wird von Protagonisten des Kunstbetriebs immer wieder der Mangel an Diskurs beklagt. Deshalb springen in Mumbai mit Galerien wie Volte, Chatterjee & Lal oder Lakereen inzwischen die Kunsthändler ein und bieten Vorträge und Diskussionen zu Kunsttheorie und kuratorischer Praxis an. Die Grenzen zwischen kommerziellen und nicht-kommerziellen Projekten sind damit denkbar unscharf, genauso wie die Unterschiede zwischen den Rollen von Kurator, Künstler, Galerist und Kritiker kaum wahrnehmbar oder auch gar nicht vorhanden sind – was kein Wunder ist angesichts der Neuheit des Trends, des Mangels an Ausbildungsmöglichkeiten für Kuratoren im Land und dem Fehlen relevanter Kunstpublikationen, vom Magazin „Art India“ abgesehen, das aber in seiner Berichterstattung recht konventionell bleibt. Letzterem soll jetzt die Neuerscheinung „Take on Art“ Abhilfe verschaffen, ein seit Februar erscheinendes Heft. Seine Gründerin, die in Delhi ansässige Kunsthistorikerin Bhavna Kakar verweist auf den „Bedarf an präziser Berichterstattung, durchdachter Kritik und kreativen Antworten auf die schnellen Entwicklungen auf dem Kunstmarkt. Wie soll die Kunst weiter blühen, wenn es kein Forum für diese Stimmen und für kritische Reflexion gibt?” Das aktuelle Heft von „Take on Art“ beschäftigt sich mit dem Phänomen „Galerie“ in Indien und hält – gerade für Westler – eine Menge an Einsichten über die indische Kunstwelt bereit. Denn wo die kulturellen, politischen und ökonomischen Bedingungen ganz anders sind als im Westen, müssen auch die Parameter, die den Kunstbetrieb bestimmen, anders definiert werden als im Westen. Wie, das können und müssen nur die Inder beantworten.