Leben und Arbeiten im Ausland

Veröffentlicht im Herbst 2007, in: Tomate, temporäres Web-Magazin, hg. von Julia Keith

Vor einigen Wochen las ich im Magazin der Süddeutschen Zeitung einen kleinen
glossenartigen Text über die zahlreichen Auswanderer-Sendungen, die zur Zeit im
Fernsehen laufen. Der Autor mokierte sich darüber, dass so ein Gewese um das
„Auswandern“ der vom Fernsehteam begleiteten Leute gemacht würde. Denn
eigentlich sei es heutzutage so eine große Sache nicht. Besonders amüsierte ihn ein
Familienvater, der vor seinem und seiner ganzer Familie Abflug nach Neuseeland mit
den Flugtickets vor der Kamera herumwedelte und aufgeregt rief: „Das sind
Einfachtickets - ohne Rückflug!“


Und das, lästerte der SZ-Autor, im Zeitalter der Billigflüge! - Ganz offensichtlich hat
der Mann Bayern noch niemals für längere Zeit verlassen, jedenfalls nicht fürs so
genannte Auswandern. Was nützt einem denn bitte ein Rückflug (der im übrigen für
eine ganze Familie von Neuseeland nach Deutschland auch nicht gerade so
spottbillig sein dürfte, nehme ich an), wenn im früheren eigenen Haus eine andere
Familie wohnt und im alten Büro jemand anders die Arbeit übernommen hat? Und
alle einen mitleidig ansehen: „War wohl doch nix mit dem Auswandern, was?“
Der SZ-Text hat mich vermutlich deshalb so aufgeregt, weil ich nämlich selbst vor
meinem Abflug im August mit Beben in der Stimme davon sprach, wie komisch es
sei, einen Flug ohne Rückflug zu buchen. Und ich bin nur nach London geflogen!
Und von Auswandern kann auch keine Rede sein, da ich nur einen Einjahresvertrag
als Mutterschaftsvertretung unterschrieben, mein ganzes Hab und Gut bei meinen
Eltern eingelagert, die Katzen erst mal in meiner alten WG gelassen und nur einen
(allerdings riesigen und tonnenschweren) Koffer mitgenommen habe. Meine
Bedingungen waren die besten: Ich hatte den besten denkbaren Job angeboten
bekommen, ein schönes Haus in Aussicht, und eine enge Freundin zog zum gleichen
Zeitpunkt für einige Monate auch nach London.


Und trotzdem, es ist überhaupt nicht so ohne, seine Zelte abzubrechen, um ins
Ausland zu gehen. Und es ist was ganz anderes, als, sagen wir, von Köln nach
München zu ziehen, obwohl die Erreichbarkeit heutzutage ungefähr dieselbe ist.
Warum das so ist, überlege ich, seit ich hier bin (inzwischen gut drei Monate). Liegt
es wirklich nur an der anderen Sprache?


Das Sprachproblem ist sicher nicht zu unterschätzen, zumal für jemanden, der sich
stark über seinen sprachlichen Ausdruck definiert und die deutsche Sprache sehr
schätzt oder gar - liebt! Oh, wie ich Deutsch liebe, noch soviel mehr, seit ich hier bin!
Und sei es nur wegen der Mühelosigkeit, mit der deutsche Wörter, irgendwo auf der
Straße von jemandem ausgesprochen, in mein Ohr und ohne Umschweife in mein
Gehirn vordringen, ja, ich möchte fast sagen: schlüpfen, gleiten, sinken! Das ist eine
solche Freude angesichts der Schwerfälligkeit, mit der sich alles Englische in mein
Sprachzentrum vorarbeiten muss! Und erst mal the other way around! An schlechten
Tagen hat man das Gefühl, man kriegt keinen einzigen geraden Satz heraus. Was
auf Reisen dazu gehört und gar Spaß machen kann, bedeutet im Alltag und
besonders bei der Arbeit nur Mühsal, nicht selten einen Quell des Ärgers und nicht
zuletzt auch der Scham. Ich fühle mich schlicht und ergreifend meines wichtigsten
Werkzeugs beraubt, zumal in einer Tätigkeit, deren Ergebnisse sich durch nichts
anderes als durch Sprache vermitteln lassen.


Dazu kommt, dass man notwendigerweise anders wahrgenommen wird, als man es
gewöhnt ist, 1. eben als sprachlich nicht so gewandter Mensch, was natürlich jeder
auf die Sprachproblematik zurückführen kann (was aber noch nicht bedeutet, dass
jeder sich vorstellen kann, dass ich im Deutschen durchaus in der Lage bin, mich
präzise auszudrücken) und 2. als vergleichsweise stiller Mensch. Mag ja ok sein,
wenn man das auch sonst ist, aber wenn nicht, dann ist es ziemlich seltsam. An
Gruppendiskussionen kann ich mich auch nach drei Monaten immer noch kaum
beteiligen, und eh ich mal einen Witz verstanden habe, sind die anderen schon beim
nächsten.


Schlagfertigkeit war gestern. (Dabei fällt mir auf, dass ich gar nicht weiß, was
Schlagfertigkeit auf Englisch heißt.)
Ist es also die Sprache, die den Neuanfang in einem anderen Land so schwierig
macht? Klar, auch.


Noch schwerer – jedenfalls, wenn man der Sprache des Landes grundsätzlich
mächtig ist – wiegen allerdings meiner Erfahrung nach die berühmten Tücken des
Alltags. Dass man diese überhaupt als Tücken empfindet, liegt daran, dass man
unendlich viele Dinge für selbstverständlich hält, die es überhaupt nicht sind! Man
ahnte es ja schon. Aber wie sich das auswirken würde, war mir nicht klar. In der
ersten Zeit geht nichts einfach so, nichts ist Routine, und nichts erklärt sich von
selbst – weder im Supermarkt einkaufen noch Fahrradfahren noch zum Arzt gehen.
Das ist spannend, aber bisweilen auch extrem ermüdend. Die Tücke kommt ins
Spiel, weil ja in England (wie in den meisten anderen westlichen Ländern) erst mal
alles so aussieht wie „zuhause“ und dementsprechend vorher gar nicht zu erkennen
ist, wo nun wohl die Probleme auftreten könnten. Das führt dazu, dass oft schon
meine Ausgangsfrage ganz falsch gestellt ist und das Gespräch in eine völlig falsche
Richtung läuft. Beide Seiten merken das meist erst ziemlich spät und reagieren dann
nicht selten mit Verärgerung und Ratlosigkeit, weil überhaupt nicht nachzuvollziehen
ist, wo das Missverständnis aufgetreten ist. Denn es ist nicht unbedingt ein
Sprachproblem, sondern wohl eher ein... interkulturelles. So etwas passiert mir
glücklicherweise immer seltener, zum einen, weil ich den größten Teil des
Alltagsrüstzeugs nun zusammen habe, zum anderen, weil ich nach diesen
Erfahrungen versuche, wirklich ganz, ganz offen zu sein. Und wenn ich doch mal
wieder in so eine Situation gerate, dann ermahne ich mich: „Offener! Noch offener
musst Du sein.“ - Es überrascht daher wohl nicht, dass es Tage gibt, an denen ich
gar nichts machen, sondern nur zuhause sitzen und die Wand angucken möchte.
Dann kann von Offenheit keine Rede mehr sein.


Das eine also, was man ablegen muss, ist die eigene Borniertheit, das andere aber
sind die Klischees über die Einheimischen, die man so mitbringt. Ich habe zum
Beispiel eine Weile gebraucht, um mir darüber klar zu werden: Engländer sind gar
nicht besonders höflich. Das wusste ich nicht.
Wo es geht, meidet man hierzulande Augenkontakt. (Was womöglich aber höflich
sein soll. Das weiß ich noch nicht so genau.) Das wirkt nicht nur ziemlich
unfreundlich (auf mich), sondern erschwert meiner Meinung nach unnötig das
Zusammenleben, beispielsweise im Straßenverkehr. Da nützt doch auch das
dauernde „Sorry“-Sagen, das vermutlich zum Image des höflichen Engländers
beigetragen hat, nichts. Wenn ich auf dem Fahrrad sitze (übrigens im London-Style
mit neongelber Weste und Helm), dann hilft es mir, wenn mich der Fußgänger, an
dem ich im Begriff bin vorbeizufahren, kurz ansieht, damit ich weiß, dass er mich
gesehen hat. Das tut hier fast niemand, und ich weiß schlichtweg nicht, wie man
damit sinnvoll umgeht. Ebenso wenig weiß ich, wie der bisweilen fast kühlen
Reserviertheit angemessen zu begegnen ist. Das unangenehme Gefühl, irgendeine
unsichtbare und unbekannte Intimitätsgrenze übertreten zu haben, kennen
vermutlich fast alle Ausländer in England. Zurückhaltung und Understatement spielen
hier tatsächlich eine große Rolle. Die Ausmaße kann ich zu diesem Zeitpunkt nur
erahnen... Für mich vollkommen neu ist die damit einhergehende Erkenntnis, dass
die Deutschen im Vergleich mit manch anderen Nationen geradezu impulsiv und
herzlich wirken! Wer hätte das gedacht? Diese Möglichkeit des veränderten Blicks
zurück auf das Heimatland, die mir die Auslandserfahrung bietet, weiß ich sehr zu
schätzen.


Schon gemerkt? Wieder mal hat alles zwei Seiten. - Und deshalb zähle ich jetzt auch
noch schnell alles auf, was ich in England praktisch, super oder beneidenswert finde:
Dass es viel seltener regnet als in Köln, das Wort „impact“, die Internationalität
Londons, die schiere Menge an Kunst, die Oyster Card, die Vielfältigkeit der
Menschen, die Tate, Afternoon Tea mit Scones und Gurkensandwiches, dass der
Fahrer des bestellten Taxis eine SMS schickt, bevor er losfährt, um einen abzuholen,
das Wort „particular“, die Diskussionsfreude, die Redegewandtheit so vieler Leute,
Schuluniformen, den kostenlosen Eintritt zu den Museen, die Hilfsbereitschaft,
viktorianische Häuser, die postkolonialistische Auseinandersetzung, das Wort
„appreciate“, der Blick aus der Küche auf das „London Eye“, die Märkte, Islington,
TopShop, das Tate-to-Tate-Boot, Cider, Kensington Gardens, Humus vom Best
Supermarket, die Nähe zum Meer, dass man in der Brick Lane in Indien ist, dass
man auf der Kingsland High Street in der Karibik ist und auf der Stoke Newington in
der Türkei und dass, wenn man in London ist, das Gefühl hat, die ganze Welt schaut
auf diese Stadt.#