Ein Mädchenbuch gerät in die Fänge der Feuilletonisten
Charlotte Roche: Feuchtgebiete
1. Auflage 2008 im DuMont Buchverlag, Köln

(veröffentlicht im Sommer 2008, in: Tomate, temporäres Web-Magazin, hg. von Julia Keith)

Dank „Perlentaucher“, der mich auch hier in London einigermaßen auf dem Laufenden hält, was in den
deutschen Feuilletons so los ist, wurde ich im Februar dieses Jahres auf das damals noch
nicht erschienene Buch „Feuchtgebiete“ der ehemaligen VIVA-Moderatorin Charlotte
Roche aufmerksam. Inzwischen ist es ein Bestseller, der sich über 600.000 Mal verkauft
hat. Das regt die Feuilletonisten offenbar sehr auf.

„Schleimporno gegen Hygienezwang“ titelte die taz, und was auch immer eigentlich ein
„Schleimporno“ sein soll, das durch den Begriff evozierte trifft das bei der Lektüre
empfundene Gefühl ganz gut. Weiter war in den Zeitungen zu lesen „Charlotte Roche hetzt
von Tabu zu Tabu“, „Lasst sprießen, Mädels“ und von Alexa Henning von Lange (die ich ja
eh gefressen habe) gar: „Die Entweihung des weiblichen Körpers“. Auweia – da hatte man
eigentlich schon gleich keine Lust mehr das Buch zu lesen. Zumal die Leseproben, die vor
Erscheinen des Buches angeboten wurden, wirklich sehr eklig waren. (Körpergerüche,
Masturbation, Eiter, Sex, Blut und Hämorrhoiden - letzteres übrigens ein Hauptanliegen der
Autorin.)

Andererseits: ich schätze Charlotte, und obwohl wir vermutlich keine Freundinnen würden,
wenn wir uns träfen, habe ich sie immer ganz gerne im Fernsehen gesehen und finde ihre
bisweilen arg demonstrative (oder auch: impertinente) Art über Körperbehaarung und
dergleichen zu sprechen, erfrischend. Ich erinnere mich an eine Sendung (Jahre her, noch
auf VIVA 2), in der sie einem amerikanischen (ausgerechnet!) Poprocker fröhlich von den
Haaren auf ihren großen Zehen erzählte und sich dann anschickte, sie ihm zu zeigen.
Der Arme hat sich fast übergeben.

– Aber warum eigentlich?
Und diese Frage ist es offenbar, die Charlotte Roche umtreibt. Und ich kann mir nicht
vorstellen, dass nicht jede einigermaßen reflektierte Frau, die sich brav aller Haare, die als
pfui an ihr gelten, entledigt, mal ab und zu fragt, warum ‚wir’ das eigentlich machen müssen
und die Männer nicht (was sich aber ja übrigens auch ändert, sieht man doch heutzutage
immer mehr achselenthaarte Männer). Insofern hat Charlotte Roches Buch eine ziemlich
große Zielgruppe.

In den zig Interviews, die sie in den letzten Monaten gegeben hat, hat die Autorin immer
wieder betont, dass es ihr vor allem darum geht, in ihrem ersten Buch auf den
„Hygienezwang“, dem sie Mädchen unterworfen sieht, aufmerksam zu machen und ihn ad
absurdum führen. Außerdem: „Frauen sind verklemmt, wenn es um ihren eigenen Körper
geht. Frauen haben keine Sprache für die eigene Lust. Frauen haben ja nicht mal eigene
sexuelle Fantasien." Oder so ähnlich. Klingt doch ganz gut und „wichtig“. Aber wie macht
sie das konkret?

„Nach einer missglückten Intimrasur liegt Helen (18) im Krankenhaus. Sie wartet auf ihre
geschiedenen Eltern. Unterdessen nimmt sie Bereiche ihres Körpers unter die Lupe, die
gewöhnlich als unmädchenhaft gelten. Mutig und radikal rebelliert Roches Roman gegen
den standardisierten Umgang mit dem weiblichen Körper und erzählt dabei die wunderbar
wilde Geschichte einer ebenso genusssüchtigen wie verletzlichen Heldin.“ (Klappentext)
Da ist alles drin: mutig, radikal, wild, genusssüchtig und verletzlich – herrlich! Und dann
auch noch Intimrasur (missglückt!) und eine Heldin mit geschiedenen Eltern. Das ist ja so
zeitgenössisch! - Woraus man Roche keinen Vorwurf machen kann, denn sie ist ja nun mal
Zeitgenossin und als Pop-Protagonistin geradezu verpflichtet, als solche sich zu benehmen
und zu schreiben (wenn sie schon schreiben muss).

Aber herrscht hier nicht eine eigenartige Diskrepanz zwischen der Tatsache, dass die
deutschen Feuilletons diesem mädchenhaft pinken Buch mit Pflaster auf dem Cover soviel
Aufmerksamkeit widmen (soweit ich das überblicken kann, haben alle reagiert (womöglich
bis auf die FAZ)), und seiner schlichten (und vor allem an Jugendliteratur erinnernden
(„Helen (18))“– Story?

Nachdem ich das Buch gekauft hatte, habe ich ein paar Tage gebraucht, bis ich es in die
Hand genommen habe, weil ich mich gegenüber den Ekligkeiten gewappnet fühlen wollte.
(Alexa Henning von Lange hat deshalb das Buch gar nicht erst ganz gelesen, weil sie
davor „Angst“ hatte. Herrjemine). Beim Lesen stellt sich schnell heraus, dass die
drastischsten Stellen schon in den Leseproben und Rezensionen verbraten wurden. (Das
konnte man sich doch eigentlich denken, oder?) Schon da ging es viel um Anales und
Vaginales, Sekrete und Gerüche – Schleimporno eben (denn um Sex geht es auch). Das
liest sich nicht besonders schön, soll es aber ja auch nicht. Wer sich aber seiner
Widerstände gegen die Schilderungen von normalen Körperfunktionen bewusst wird, der
beginnt zumindest auch darüber nachzudenken, warum das so ist und dass es im Grunde
seltsam und womöglich das Zeichen einer Entfremdung unseres Körpers bedeuten könnte.
Die Befürchtung Alexa Henning von Langes (die ich übrigens u.a. für Aussagen wie diese
gefressen habe: „Meinem Mann liegt es eben mehr, die Kekse zu essen, als sie zu backen.
Während ich sie lieber für ihn backe, als sie zu essen.“), „das Buch könnte über die Macht
verfügen, mich bis ins Grab zu verfolgen.“ ist unbegründet, meine ich. (Und, meine Güte,
woher sollte Charlotte Roche plötzlich das Talent und die Kraft nehmen, solch nachhaltige
Literatur zu schreiben?)

Durchaus weckt das Buch das Bewusstsein für den eigenen Körper und die
Hygieneroutinen. Das hält auch ein paar Tage an. Vielleicht sogar länger. Und das schadet
nicht. Mehr tut es aber eigentlich auch nicht. Die Autorin hat dem Buch und ihrem Anliegen
(das übrigens, wie der aufmerksame Beobachter weiß, eben kein neues, sondern ein altes
Anliegen von Charlotte Roche ist) keinen Gefallen getan, indem sie den Plot noch mit
geschiedenen Eltern und einem mal kurz auftauchenden, sehr blass bleibenden, Bruder
angereichert hat. Die Mutter ist offenbar emotional gestört, mit dem Vater kann die Tochter
keine Unterhaltung führen. (Interessanterweise wird Charlotte Roche in Interviews immer
wieder darauf angesprochen, warum nur die Mutter so schlecht dargestellt würde – als
würde es als normal angesehen, dass die Kommunikation zwischen Vater und Tochter
disfunktional ist. Und wenn das so ist, könnte man vielleicht mal darüber nachdenken?).
Was diese Familiengeschichte soll, weiß ich nicht so recht. Als Erklärung für das mitunter
exzentrische Verhalten der Protagonistin (die Avocadokerne zu Masturbationszwecken
sammelt, sich die Wimpern mit Tusche zukleistert, um als „Wimpern auf zwei Beinen“
angesehen zu werden, ihre anale Wunde fotografisch dokumentiert und sich Vaginalsekret
als Parfüm hinter die Ohren tupft) jedenfalls taugt die unscharfe Hintergrundgeschichte
nicht.

(Ich verzettel mich. Vielleicht auch nicht. Charlottes Buch und vor allem seine Rezeption
werfen so viele Fragen auf, dass ich es nicht ganz einfach finde, mich auf das Wesentliche
zu konzentrieren. Muss ich aber vielleicht auch nicht.) Zumindest noch eins:
„Feuchtgebiete“ wird in den Feuilletons wie das neue Buch einer bereits als Literatin
anerkannten Autorin behandelt. Dementsprechend wird seine „unterdurchschnittliche“
literarische Qualität bemängelt. In der FR trieb es Ina Hartwig soweit, dass sie Charlotte
Roche mit Elfriede Jelinek vergleicht und schreibt: „Auf den Titel des Stern hat es Elfriede
Jelinek nie geschafft; das gelang erst Charlotte Roche in der jüngsten Ausgabe der
Wochenzeitschrift. (...) Und es passt zur Infantilgesellschaft, die die scharfsichtige Jelinek
schon früh diagnostizierte. (...) "Wir sind lockvögel, baby!" hieß programmatisch deren
Poproman von 1970. Das war acht Jahre vor Charlotte Roches Geburt.”

Diese Herablassung ist meiner Meinung völlig verfehlt, ebenso wie der Vergleich mit
einer Schriftstellerin wie Jelinek. Viel schwerer aber wiegt, dass es doch bitte noch jeder
Generation selbst überlassen bleiben sollte, die Welt neu zu erfinden und abzustecken.
(Sonst könnten wir ja erst anfangen uns zu äußern, wenn wir uns alles je Dagewesene
einverleibt hätten, also gar nicht.) Aber noch nicht mal das versucht Charlotte Roche; ihr
Buch ist eine leichte und einfache, manchmal lustige und oft eklige Geschichte über ein
Mädchen mit Hämorrhoiden und ausgefallenen Sexfantasien. Geschrieben ist es vor allem
für junge Mädchen und Frauen, aufregen (oder wohl eher anregen) lassen sich jedoch vor
allem die alten. Leider sind das die, die die Kulturredaktionen besetzen. Wirklich
interessant fände ich mal zu hören oder zu lesen, was junge LeserInnen dazu zu sagen
haben.

Charlotte Roche hat für das, was sie sagen will – und ich nehme ihr ab, dass sie etwas
sagen will – eine angemessene Form gefunden. Das Buch kann man mögen oder nicht. Ich
mochte es, wie ich jetzt noch ein Mädchenbuch mögen kann, und erkenne seine
offensichtliche, breite Wirkungskraft an, über die ich mich nichtsdestotrotz wundere und als
Zeichen dafür zu betrachten neige, dass das Buch zur rechten Zeit kommt und relevanter
ist, als die Herren und Damen, die sich nun so ereifern, sich eingestehen mögen.

P.S.: Gerade fand ich einen aktuellen und unterhaltsamen Artikel über „Feuchtgebiete“ im
britischen Guardian: Publishers battle to sign up Europe's sex sensation. - Also, das
Marketing funktioniert jedenfalls auch über Deutschland hinaus 1A.