Please scroll down for English version.

Show and tell! – Eine kurze Bemerkung zum Erzählen in zeitgenössischen Film- und Videoarbeiten

Erschienen in:  Doris Krystof/Barbara J. Scheuermann (Hg.): Talking Pictures, Kat. K21 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Köln 2007, p. 159f.

Gleichsam zwischen den Grenzen der Disziplinen angesiedelt, werden Texte in bildenden Kunstwerken meist nur en passant behandelt – für die Analyse sprachlicher Elemente wie Bildunterschriften, Zwischentitel oder auch längerer Texte kommen oft nicht die zur Verfügung stehenden literaturwissenschaftlichen Methoden zur Anwendung, der Text wird als eher marginal im Vergleich zum Bild behandelt. Charakteristisch für die aktuellen theatralischen Videoarbeiten, gerade auch in unserer Ausstellung, ist jedoch ihr bewusster und avancierter Umgang mit der Sprache – die Darstellung eines zumeist eigens geschaffenen Skripts ist häufig Ausgangspunkt der bildkünstlerischen Arbeit.

Während in der klassischen Erzählwissenschaft das Drama als nicht-narratives Genre gilt – denn die vorgetragene Geschichte wird weniger erzählt als vielmehr gezeigt [1] – interessiert  zeitgenössische bildende Künstler am theatralischen Vorgehen gerade das Potential, eine Geschichte in Bildern erzählerisch zur Darstellung zu bringen. Die Verbindung zwischen beidem lässt sich auch narratologisch benennen: Die autonome direkte Figurenrede, die konstitutiv für das Theater ist und in unserer Ausstellung nicht nur von Victor Alimpiev, sondern auch von Keren Cytter, Danica Dakic, Ana Torfs und Gillian Wearing eingesetzt wird, ist sozusagen der Extremfall einer Erzählung im dramatischen Modus. Dabei vermitteln schon die genannten  Beispiele einen Eindruck der Vielfalt von Möglichkeiten, direkte Rede in ein bühnenhaftes Geschehen einzubinden: sie reichen hier von spontanem Ausdruck im Monolog (Wearing) oder im Interview (Dakic) über den Vortrag eines eigens erstellten Skripts, sowohl im Monolog (Alimpiev) als auch im Dialog (Cytter) bis hin zur Wiederaufführung eines historischen dramatischen Textes als Hörstück mit Dia-Bildern (Torfs).

In Deutungen von visuellen Geschichten der Gegenwart wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die erzählten Geschichten „Wichtiges aussparen“ oder von einem Ereignis zum nächsten ‚springen’. Dieses Vorgehen ist keinesfalls neu und gehört wesentlich sowohl zum Theater als auch zum Erzählen der Moderne. In den Literatur­wissenschaften nennt man diese Auslassungen nach Wolfgang Iser Leerstellen [2] oder auch Ellipse, die Filmtheorie spricht von sutures und Schnitttechniken, die Rezeptionsästhetik hat den Begriff Unbestimmtheitsstelle geprägt.[3]  „Eine Leerstelle lässt sich grob definieren als eine versteckt oder offen markierte Abwesenheit.“[4] Sie ist die Stelle, an der sich die Vorstellungen und Fantasien des Betrachters entfalten können und sollen.

Schwierig ist es, bei einer Abfolge von Bildern zu entscheiden, was als ein notwendiges Intervall zwischen den einzelnen Bildern zu bezeichnen ist und was als eine Unbestimmtheitsstelle. Wie unterschiedlich markant diese Leerstellen sein können, zeigen beispielsweise T.J. Wilcox' Texte, die als Untertitel die Geschichte zu den filmischen Bildern beinahe klassisch erzählen, während in Markus Schinwalds Arbeiten der Text und die Bilder gleichermaßen kryptisch wirken und sich überhaupt nur noch aus Unbestimmtheiten zu generieren scheinen, aus Ellipsen und Zwischenräumen. Letzterer versteht seine filmischen Bilder als komplett in diesen narrativen Zwischenräumen angesiedelt. Sie sind damit weniger genuin erzählerisch („geschichts-darstellend“) als vielmehr „geschichtsindizierend“[5] – weder Text noch Bild befriedigen ein narratives Bedürfnis, das durch bestimmte Stimuli (Akteur, Handlung, Raum usw.) ausgelöst wird.

Dasselbe kann für theatrale Arbeiten gelten, die ganz ohne Text auskommen wie beispielsweise Catherine Sullivans oder Mathilde ter Heijnes Filme, die mehr oder minder große Fragmente aus nicht näher bezeichneten dramatischen Zusammenhängen herauslösen und so ihres erzählerischen Kontextes berauben. Der Zweck einer solchen narrativen Dysfunktionalität erschöpft sich nicht, wie vielfach geschrieben, allein in dem Aufbrechen narrativer Strukturen – dieses ist allein als Methode zu betrachten, die es erlaubt, das Augenmerk des Betrachters auf bestimmte, jenseits der narrativen Darstellung liegende, Aspekte zu lenken: Bei Sullivan tritt der Körper als Träger von Emotionen in den Vordergrund, ter Heijne stellt weibliche Stereotype und ihre überkommene Darstellung in den Mittelpunkt.

Ähnlich wie bei der Lektüre eines Textes – und im Unterschied zur Rezeption eines live auf der Bühne aufgeführten Stückes –, tut der Betrachter theatraler Videos oder Filme „etwas scheinbar Paradoxes, denn er nimmt das dargestellte Geschehen zugleich als offen und gegenwärtig und als abge­schlossen und vergangen auf. Vergangen erscheint das Geschehen, insofern es von Anfang an als abgeschlossenes Ganzes aufgefasst (...) wird, als chronologische Gestalt, in welcher bereits der Anfang sinnhaft auf das Ende bezogen ist. Als gegenwärtig und offen nimmt der Leser das Geschehen auf, insofern er die Figuren als in das Geschehen der erzählten Welt verstrickte Personen versteht und ihre Agentenperspektive nachvollzieht.“[6]

Eine explizite Markierung einer Geschichte als vergangen oder zukünftig ist in der bildenden Kunst nur durch Requisiten wie Kleidung oder Kulisse – durch so genannte Zeitzeichen – denkbar. Muss das Geschehen auf dem Bildträger zwar ein vergangenes sein, da es schon bildlich fest­gehalten wurde, so bindet seine Rezeption es in die Gegenwart des Betrachters ein. Diese Eigenschaft teilen Video und Film mit dem Medium der Fotografie, der sie jedoch den zeitlichen Aspekt voraushaben, und unterscheidet sie von der klassischen Theateraufführung, deren Gegenwärtigkeit konstitutiv ist. Diese Eigenheit des Mediums Video/Film ist es, die die Beschäftigung mit dem Theatralen so ausgesprochen fruchtbar macht.



[1]         In der Erzählwissenschaft unterscheidet und bezeichnet man die schon seit Platon bekannten Möglichkeiten der Distanzierung in der Literatur als berichtende Erzählung bzw. szenische Darstellung.In der englischsprachigen Erzähltheorie wird auch das Begriffspaar simple narration und scenic presentation verwendet oder aber die Opposition Telling vs. Showing.[1]  Für die bildende Kunst scheint die Unterscheidung zwischen Zeigen und Erzählen treffend zu sein.[1] Unabhängig von der Bezeichnung benennen alle Begriffe unterschiedliche Abstufungen der Mittelbarkeit.

[2]        Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976.

[3]        Vgl. u.a. Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk, Tübingen 1972 (1. Auflage 1931) und ders.: Ontologie der Kunst, Tübingen 1962, S.236-245.

[4]        Dotzler, Bernhard: Leerstellen, in: Bosse, Heinrich und Ursula Renner (Hrsg.): Literatur­wissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg 1999, S.211-230, hier S.213.

 [5]        Diese Bezeichnung geht auf Werner Wolf zurück. (Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie, in: Vera und Ansgar Nünning: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier 2002, S.23-103) Dem ähnlich unterscheidet Marie-Laure Ryan zwischen „being narrative“ und „having narrativity“. (Marie-Laure Ryan (Hg.): Narrative across Media. The Languages of Storytelling, Lincoln/London 2004) Damit sind auch  Phänomene zu erfassen, die normalerweise nicht als narrativ gelten. Vorausgesetzt wird damit eine Graduierbarkeit von Narrativität sowie die Auffassung des Narrativen als „kognitivem Schema“. Dies befreit von der Crux der Frage „Ist es narrativ oder nicht?“ und ermöglicht gleichzeitig eine sehr viel differenziertere Beschreibung narrativer Elemente in bildenden Kunstwerken. (vgl. hierzu meine Dissertation)

[6]              Martinez/Scheffel, S.119. Was die Autoren hier auf die Lektüre eines narrativen Textes beziehen, gilt m.E.  auch für unseren Fall. Vgl. auch Mieke Bal: ...



SHOW AND TELL - SOME REFLECTIONS ON NARRATIVITY IN TIME-BASED ART WORKS

Published in:  Doris Krystof/Barbara J. Scheuermann (eds.): Talking Pictures. Theatricality in Contemporary Fim and Video Works, cat. K21 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Cologne 2007, p. 158f.

Situated as they are between disciplinary boundaries, texts in the visual arts tend to be treated en passant. Indeed, it is rare for the methods of literary criticism at our disposal to be applied to the analysis of linguistic elements such as captions, intertitles or even longer texts - in comparison with images, texts are apt to be treated as marginal. Yet a conscious and advanced
approach to language is characteristic of current theatrical video art - with the present exhibition being no exception – such that a script, for the most part composed especially for the piece in question, often foms the point of departure for the creative process.

Drama, as classical narratology would have it, is a non-narrative genre since the story is not: actually told (by a narrator) but rather shown (by actors). Narratology differentiates and denotes the possibilities of distancing in literature as reporting narrative or scenographic reprresentation, both of which have been around since Plato. In narrative theory as practised in the anglophone world, the pair of terms simple narration and scenic presentation finds frequent use, as does the opposition of telling and showing. Irrespective of the terminology, however, all of the terms name differing degrees of indirectness.

For contemporary artists, the appeal of the theatrical approach lies in its potential to narrate a story in images. The connection between the two can also be rendered in narratological terms:. the autonomous direct speech of characters – which is constitutive for the theatre and appplied in the present exhibition not only by Victor Alimpiev, but also by Keren Cytter:. Danica Dakiö, Ana Torfs and Gillian Wearing – might be thought of as the extreme case, as it were, of narration in the dramatic mode. One need go no further than the above-mentioned examples to gain an impression of the diversity of possibilities available for incorporating direct speech into a stage-like happening. These range from modes of spontaneous expression in monologue (Wearing) or interview (Dakić) form to the delivery of an especially scripted text, whether it be a monologue (Alimpiev), a dialogue (Cytter) or even a voice off-screen (Yang), to the restaging of a historical dramatic text as an audio play with slide projection (Torfs).

Interpretations of contemporary visual narratives have a propensity for pointing out that the stories told "omit important details" or "1eap" from one event to another. Such an approach is in no way new and pertains as much to theatre as it does to the narrative of modernity. In literary theory these omissions are referred to as gaps or blanks after Wolfgang Iser or sometimes as ellipses. Film theory, on the other hand, speaks in tems of sutures and cuts whereas reception theory has developed the notion of the spot of indeterminacy. This covert or overtly marked absence is the place where the viewer's ideas and fantasies can and should unfold.
Yet in regarding a sequence of images, it is often difficult to decide what might be deemed a  necessary interval between individual images and what might rather be considered a spot of indeterminacy. The degree to which these gaps can differ in their manifestation can be witnessed in the work of T.J. Wilcox, for example, where text appears in the form of subtitles almost conventionally narrating the story being told on fi1m. In Markus Schinwald's world, by contrast, both text and imagery are equaliy cryptic and seem to generate themselves entirely from indeterminacies, from ellipses and interstices. Hence, they are less genuinely narrative, less likely "to represent a story" than they are to"indicate a story" (1) – neither text nor image satisfies the narrative urge aroused by certain stimuli (actor, plot, space etc.).

The same can be said of theatrical works operating entirely without text, as, for example, in the case of Catherine Sullivan's or Mathilde ter Heijne's films, both of which more or less detach large fragments from unspecified dramatic sources thereby robbing them oftheir narrative context. Here, narrative becomes a vehicle for the conveyance of particular chlichés, topoi and collective memories, although its progression is anything but linear. The purpose of such narrative dysfunctionalism is not exhausted, as has often been maintained, in the breaking up of narrative structures. For this can exclusively be regarded as a method allouwing for the viewer's attention to be directed towards certain aspects exterior to the narrative representation: in Sullivan's work the body is foregrounded as a conveyor of emotions whereas ter Heijne's work centres on female stereotypes and their traditional representation. Only once they habe been shed of their narrative shells do these motifs clearly emerge – or show themselves.

Similar to the way we read texts – and in contrast to the way we experience a play performed live on stage – as viewers of theatrical or narrative videos and films, we do "something apparently paradoxical by registering the events portrayed as being open and present and yet simultaneously as complete and past. Events appear to be past insofar as they are perceived from the very beginning to constitute a completed whole ... a chronological form in which the beginning already refers to the end in respect of meaning. The reader perceives events to be present and open insofar as he or she regards characters as being figures caught up in the events of the narrated world and understands their perspective as agents."2 The explicit branding of a story as past or future in the visual arts is only conceivable through the deployment of props, costumes or the set of time signals, as it were. Even though the events must necessarily belong to the past by the very fact of their being captured on a supporting medium such as film, the viewing process nevertheless incorporates the very same events into the viewer's present.Video and film share this property with the medium of photography, though the former have the advantage of time, of temporality, on their side. It is a property that serves to distinguish them from the classical theatre performance whose presentness is constitutive. And it is precisely this particularity of the medium of video/film that renders the foray into the realms of
theatre and narrative so extraordinarily fruitful for the visual arts.