We’ve come to scream in the happy house

abgedruckt in LIDO 11, Düsseldorf 2010, anlässlich der Ausstellung "Happy House oder Kleine Reparatur der Welt", in KIT, 21.11.2009 - 31.01.2010

Für jegliche auch nur in geringstem Maße politisch ausgerichtete Kunst waren im letzten Jahrzehnt „Globalisierung“ und „Migration“ zentrale Begriffe – beide bezeichnen Entwicklungen, die jeden von uns auf vielerlei Weise betreffen und unser Leben beziehungsweise unsere Perspektive auf die Welt beeinflussen und verändern. Eng mit diesen Phänomenen verknüpft sind die Begriffe von Zugehörigkeit und Heimat, die jedoch oftmals in den Hintergrund treten, obwohl Heimatim weitesten Sinne zugleich als Ausgangspunkt und als Ziel aller menschlichen Bestrebungen gelten kann, denn ausnahmslos jeder muss seinen Platz in der Welt finden. Während Globalisierung und Migration jedoch stark politisch konnotiert sind, erscheint der untrennbar damit verknüpfte Begriff Heimat zunächst als etwas Intuitives und Individuelles und entfaltet erst im soziokulturellen Diskurs seine politische Dimension.

Das Schillern vom Persönlichen ins Allgemeine

Für das Individuum bezeichnet Heimat – übrigens ein Begriff, der sich nur schwer und mit wesentlichen Bedeutungsveränderungen in andere Sprachen übersetzen lässt – normalerweise sowohl ein Gefühl von Verbundenheit oder Zugehörigkeit als auch einen mehr oder minder konkreten Ort, der häufig der Ort der Herkunft ist oder aber der Platz, an dem sich die nächststehenden Menschen befinden. So markiert das Wort ‚Heimat’ ein Spannungsfeld zwischen geographisch-konkret und intuitiv-abstrakt. Kaum ein anderer Begriff schillert in solchem Maße vom Persönlichen ins Allgemeine und nimmt so unterschiedliche Bedeutungen an, je nachdem von wem und in welchem Zusammenhang er verwendet wird.

So drehen sich die in der Ausstellung „Happy House oder Kleine Reparatur der Welt“ gezeigten Arbeiten von Tolia Astakhishvili und Heike Gallmeier, Lucile Desamory, David Hahlbrock, Franka Kaßner, Ulrike Möschel, Jakub Nepras, Lukas Schmenger, Adriane Wachholz und James Webb um Konzepte von Heimat im weitesten Sinne – die Untersuchung von Orten, Räumen und Positionen sowie der an sie geknüpften Bedeutungen steht hier im Mittelpunkt. Steht jedem sein Platz in der Welt zu? Wann erleben wir eine Umgebung als feindlich, wann als freundlich? Wie kann man sich einen Raum zu eigen machen? Ist vor dem Hintergrund zunehmender Verflüchtigung von Sicherheit und Ortsbezug der Traum von Geborgenheit und Zugehörigkeit überhaupt noch angemessen? Ist es gar möglich, mit den Mitteln eines Künstlers die allgegenwärtigen Probleme der Gesellschaft und der Welt zu „reparieren“, wie es der Titel der Ausstellung nahe legt?

 

Die kleine Reparatur der Welt

„Kleine Reparatur der Welt“ geht auf den Titel der letzten Folge der tschechischen Science-Fiction-Serie „Die Besucher“ aus den frühen achtziger Jahren zurück. Die ganze Serie dreht sich um die Suche nach einer Formel, die für die Rettung der Erde und somit der Menschheit nötig ist. Im Jahr 2484 nämlich wird vom Zentraldenker (ZD) der Menschheit errechnet, dass die Erde durch ein rotierendes Nebelgebilde bedroht ist. Als Rettung soll eine inzwischen zerstörte Formel des Genies Adam Bernau beschafft werden, der diese als Schüler im Jahr 1984 entwickelt hatte, um Kontinente und sogar ganze Welten verschieben zu können. Ein Expeditionsteam unter der Leitung des Akademikers Filip reist mit einer Zeitmaschine 500 Jahre zurück in die Vergangenheit, um die Formel aufzuspüren und damit die Erde 2484 retten zu können. Zahlreiche Verwicklungen verhindern allerdings, dass die Zeitreisenden die Formel bekommen, und so müssen sie schließlich niedergeschlagen und mit leeren Händen nach Hause in ihre Zeit reisen. Herr Drchlik, der das Forscherteam aus dem Jahr 1984 zurück in die Zukunft begleitet hat, bemerkt nach seiner Ankunft im Jahr 2484, dass der Zentralcomputer ein wenig schief steht. Mit einem rasch angefertigten Holzklötzchen korrigiert er diese Schieflage. Daraufhin korrigiert der Zentralcomputer seine ursprüngliche Berechnung und siehe da: er stellt fest, dass die Erde zu keinem Zeitpunkt in Gefahr gewesen war.

Ein simples Stück Holz an die richtige Stelle geschoben, rückt das Weltbild also wieder gerade. Das ist wunderbar und simpel und bedeutet zugleich, dass das Scheitern der Mission gar keine Katastrophe war. Allerdings heißt es auch, dass alle vorhergehenden Bemühungen von vorneherein ganz und gar unnötig waren – aber was für eine großartige Geschichte sie ergeben haben! Und überhaupt: ohne sie hätte Herr Drchlik nicht aus der Vergangenheit mit in die Zukunft kommen und die Schieflage des Zentraldenkers bemerken können – also doch nicht alles umsonst!

Diese komplizierte Konstellation aus Ursache und Wirkung, Mittel und Gegenmittel, Erfolg und Scheitern kann nicht nur als eine tolle Story gelesen werden, sondern ganz nebenbei auch als ein Abbild der Situation, in der sich womöglich alle Menschen, aber besonders Künstler und Künstlerinnen heutzutage befinden: auf einer Mission, deren Erfolg – oder auch nur deren Sinn –niemand garantieren kann.


Das Unterleghölzchen

Um ihren Platz in der Welt zu finden, erproben Künstler verschiedenste Methoden. Immer wieder geht es in Werken, gerade von jungen Künstler, um den Versuch der Selbstvergewisserung und der Analyse eigener Positionen. Die Herausforderung scheint umso größer angesichts der Diversität und Unübersichtlichkeit unserer heutigen Welt. Wobei gerade vor dem Hintergrund der Geschichte um die kleine Reparatur der Welt und das Unterleghölzchen die Frage gestellt werden muss, ob sich unsere Welt tatsächlich so sehr verändert hat oder ob es nicht vielmehr unsere Perspektive ist, die sich gewandelt hat ­– zum Beispiel durch die modernen Kommunikationsmöglichkeiten, dank derer wir permanent informiert werden über das Weltgeschehen, zu dem die Menschen noch vor wenigen Jahrzehnten gar keinen Zugang hatten.

War die Welt mit all ihren Kulturen, Völkern, Religionen, Katastrophen und Kriegen denn nicht eigentlich schon immer viel zu komplex, um von irgendjemandem begriffen zu werden? Die heute so gerne gemachte Feststellung von der Unübersichtlichkeit und Schnelllebigkeit unserer Zeit erinnert doch gar zu sehr an das alle Epochen überdauernde Gerede von der guten alten Zeit, in der alles besser gewesen ist.

„Nur du bist du.“ stellt die Diät-Cola-Werbung einleuchtend fest, und gleichzeitig ist man „nicht bloß ein einzelner Mensch“, wie Theodor Fontane den Geheimrat Wüllersdorf in „Effi Briest“ konstatieren ließ. Zwischen diesen beiden Polen – dem Anspruch der individuellen Entfaltung und dem Anspruch der Gesellschaft an das Individuum (und womöglich auch zwischen zeitgenössischer Alltagskultur und mitteleuropäischem Bildungskanon) – gilt es sich als junger, in Deutschland lebender Künstler zu positionieren, um seine geistige und emotionale Heimat zu finden und die Welt – oder das Bild von ihr – zumindest vorübergehend wieder gerade zu rücken. An welche Stelle also soll das Unterleghölzchen in Form einer künstlerischen Idee geschoben werden, damit wieder alles ins Lot kommt – oder zumindest so aussieht, als wäre es wieder im Lot?

Das Medium spielt dabei eine untergeordnete Rolle – wir sind endgültig in den Zeiten angekommen, in denen Ideen über alle Gattungs- und Mediengrenzen hinweg verfolgt werden können –, es fällt jedoch auf, dass in diesem Zusammenhang besonders häufig auf die sogenannten neuen Medien zurückgegriffen wird. Offensichtlich herrscht so etwas wie weitgehende Übereinstimmung, dass sich mit video- und computerbasierten Bildern die Welt am ehesten angemessen darstellen lässt.

Wie auch in dieser Ausstellung ersichtlich, gibt es dabei drei grundlegende Vorgehensweisen, um sich der Frage nach der Platzierung des Unterleghölzchens zu nähern: die Untersuchung der eigenen Erscheinung in der Welt (im weitesten Sinne), die Erforschung des menschlichen Inneren sowie die Reflexion der als Lebensort vorgefundenen Welt, die es zu bewohnen gilt.


Das Bedürfnis nach Sichtbarkeit

Als eine der klassischen kunsthistorischen Untergattungen dient das Selbstportrait Künstlern traditionell zur Selbsterforschung und Positionsbestimmung. Auf keine andere Weise können Künstler derart eindrücklich ihre eigene Erscheinung ins Bild rücken und sowohl ihren Zeitgenossen als auch der Nachwelt nicht nur ihr Werk hinterlassen, sondern zugleich auch das Bild seines Schöpfers und damit die Erinnerung an sie selbst. Diese Tradition reicht Jahrhunderte und Jahrtausende zurück und bildet – besonders schön zum Beispiel in den Selbstdarstellungen von Baumeistern als Kapitellfiguren in mittelalterlichen Kirchen – das menschliche Bedürfnis ab sich selbst sichtbar in der (Nach-)Welt zu machen.

Unter den hier ausgestellten Künstlern ist Lukas Schmenger der einzige, der sich dezidiert der Auseinandersetzung mit dem eigenen Abbild widmet, mit der Darstellung der Persona, und damit auch mit der schon von vielen Künstlern erforschten und immer noch aktuellen Frage danach, ob und wie sich in einem Abbild eines Menschen dessen Inneres, seine Persönlichkeit und Seele, darstellen lässt. Der Künstler liefert sich den Betrachtern damit gleichsam aus und überlässt es ihnen, Schlüsse über seinen Charakter und sein Erscheinungsbild zu ziehen. Wieviel gibt der Künstler hier tatsächlich von sich zu erkennen? Was sagt das über seinen Platz in der Welt aus, und in welchem Verhältnis stehen wir zu ihm?

 

Der Zusammenprall mit dem Unbewussten

„Die Erinnerung an die äußeren Fakten meines Lebens ist mir zum größten Teil verblasst oder entschwunden. Aber die Begegnung mit der inneren Wirklichkeit, der Zusammenprall mit dem Unbewussten, haben sich meinem Gedächtnis unverlierbar eingegraben. Ich kann mich nur aus den inneren Geschehnissen verstehen (...)“

(C.G. Jung)

Spätestens seit Surrealismus und Psychoanalyse streben Künstler danach, innere Bilder nach außen zu transportieren. James Webbs “Autohagiography” mit Audio-Aufnahmen des Künstlers bei einer ‚Rückführung’ mittels Hypnose und mit einer Chaiselongue, wie man sie sich in Sigmund Freuds Sprechzimmer vorstellt, bezieht sich am deutlichsten auf diese Tradition, aber auch Lucile Desamorys traumähnliche Installationen und Jakup Nedras „Trip“ kreisen um das Unterbewusste, um Fantasie, Erinnerung, Traum, ja wohl auch um Halluzination und Wahnsinn. Wie in einer gänzlich anderen Welt können im Zustand der Loslösung von Verstand und Wissen Vorstellungen und Wege erprobt werden, die in der „normalen“, der äußeren, Welt nicht erprobt werden können, weil Konventionen und (Selbst-)Beschränkungen aller Art das Individuum daran hindern.

Gerade Künstler empfinden diese gesellschaftlichen Einschränkungen als besonders stark und hinderlich für ihre künstlerische und persönliche Entfaltung. Alternativen zu den verstandesgesteuerten Prozessen, denen unsere Gesellschaft unterworfen ist und von denen sie in vordergründig geordneten Bahnen gelenkt wird, lassen sich in intuitiv entwickelten Konzepten, in poetischen Bildern und fantastischen Settings aufzeigen. Die nach außen getragenen inneren Bilder können als Wegweiser gelesen werden, die hinausweisen aus der alltäglichen Routine und als Angebot das Blickfeld zu erweitern.

Indem das Individuum als Teil und sogar als Mittelpunkt dieser Welt aufgefasst wird, wird das tiefste Innere des Menschen zur Quelle des Selbst und damit zum Ursprung der Welt. Innere Bilder werden zu einer Reflektion auf die äußere Welt und können den Blick auf diese entscheidend verändern.

 

Die Welt, die es zu bewohnen gilt

Art should be a trailer for the future.

(Jack Goldstein)

Auf denkbar unterschiedliche Weise beschäftigen sich Ulrike Möschel, Heike Gallmeier und Tolia Astakhishvili, David Hahlbrock, Franka Kaßner und Adriane Wachholz mit der Welt, in der sie – und wir – leben. So gegensätzlich ihre Positionen mitunter erscheinen mögen, so deutlich wird doch bei näherer Betrachtung das sie verbindende künstlerische Interesse, sich über die Auseinandersetzung mit dem Raum ein Stück von der sie umgebenden Welt anzueignen.

 

Der Wunsch, eine Veränderung – und sei sie auch noch so klein – zu bewirken, ist jedem Menschen zu eigen. Allzu oft jedoch scheitert die Befriedigung dieses Bedürfnisses an der unüberschaubaren Größe und Vielfalt der Aufgaben. Wenn Künstler sich nun mit dem konkreten, vorgefundenen Raum befassen, dann mag dies der Erkenntnis entspringen, dass letztlich jede Veränderung nur vom Individuum ausgehen kann, gemäß dem Slogan „Think global, act local“. Das Individuum seinerseits muss die ihm zur Verfügung stehenden, naturgemäß begrenzten, Mittel richtig anzuwenden wissen, um eine Veränderung der Umstände zu erreichen, so wie Herr Drchlik das Unterleghölzchen wirksam einzusetzen wusste.

Kennt man seine eigenen Fähigkeiten und Grenzen, ist Mitgestaltung möglich. Mitgestaltung wiederum ist eine Form der Kommunikation mit den anderen. Künstlerische Interventionen im Raum bringen Künstler und Betrachter einerseits und Betrachter und Betrachter andererseits miteinander in Kontakt. Die Grenzen zwischen Autor und Rezipient, Sender und Empfänger, lösen sich auf. So kann es die Bereitstellung einer bestimmten Konstellation, eines räumlichen Settings, einer Versuchsanordnung sein, die es erlaubt, bestimmte Orte oder Situationen zu beobachten und zu analysieren.

Begegnen sich die Beteiligten offen und mit der Bereitschaft, anders als gewohnt zu sehen und zu lernen, dann bietet sich ihnen nicht nur die Chance, die Begegnung zu genießen, sondern auch aus ihr persönlichen Nutzen zu ziehen und sich selbst womöglich gar das visionäre Denken zu erlauben.

Happy House

Das ist die Vision dessen, was Kunst leisten kann. Ist dies eine Utopie? Oder ist es möglich? Gilt es vielleicht nur seinen Blick auf die Welt zu verändern, um die Weltprobleme als leichte Schieflage unserer Perspektive zu entlarven, sie zu korrigieren und gemeinsam mit den anderen Weltbewohnern einfach glücklich zu sein, so wie es der Song „Happy House“ von Siouxsie & The Banshees zu verheißen scheint?

This is the happy house

we’re happy here in the happy house

oh it’s such fun.

We’ve come to play in the happy house
and waste a day in the happy house

it never rains.

We’ve come to scream in the happy house

we’re in a dream in the happy house
we’re all quite sane.

This is the happy house

we’re happy here

there’s room for you if you say I do
but don’t say no or you’ll have to go.


We’ve done no wrong with our blinkers on

it’s safe and calm if you sing along.

This is the happy house

we’re happy here in the happy house

to forget ourselves

and pretend all’s well

there is no hell.

(Siouxsie & The Banshees, 1980)