Punktsysteme

Wenn der Punkt nur als etwas Gedachtes existiert, was bedeutet das dann für seine Darstellung?

In gedruckter Form erschienen als Einführung in: PUNKT.SYSTEME, Vom Pointillismus zum Pixel, Kat. Wilhelm-Hack-Museum,  Heidelberg (Kehrer) 2012


Man könnte meinen, ein Punkt sei eine klare Angelegenheit. Um gleich die Pointe vorwegzunehmen: Dem ist nicht so, nein, der Punkt ist alles andere als eine klare Angelegenheit. Ein Punkt gehört nämlich zu denjenigen Dingen im Leben, die einem so lange selbstverständlich sind, bis man anfängt, über sie nachzudenken. Das fängt schon bei den Dimensionen an: Wie groß ist so ein Punkt eigentlich? Oder wie klein? Und welche Form hat er? Rund, würde man wohl spontan annehmen, nur: was unterscheidet ihn dann eigentlich von einem Kreis? Die Größe? – Was uns zu seinen Dimensionen zurückbringt; ein Punkt muss etwas ganz Kleines sein, und tatsächlich gehen Mathematiker davon aus, dass seine Fläche gegen Null geht, genauso wie seine räumliche Dimension. Das bedeutet, der Punkt ist etwas, was immer noch kleiner ist als wir es uns vorstellen können. Ganz klar: alles, was kleiner ist, als wir uns vorstellen können, entwischt unserem Vorstellungsvermögen, aber denken können wir es dennoch. Nur: wenn der Punkt lediglich als etwas Gedachtes existiert, welche Rolle kann er dann eigentlich für die künstlerische Darstellung spielen? Und aus Sicht der Ausstellungsmacher weiter gedacht: wie kann man eine Ausstellung konzipieren um etwas Gedachtes, aber letztlich Unvorstellbares, dessen materielle Form widersprüchlicherweise aber recht klar (klein, rund) scheint?

Hilfesuchend wenden wir uns da an den Künstler, der sich als einer der Ersten grundlegende Gedanken zu abstrakten Formen in der bildenden Kunst gemacht hat: Wassily Kandinsky, sozusagen der Großmeister der Abstraktion. Für ihn ist der Punkt „abstrakt gedacht oder in der Vorstellung (...) ideellklein, ideellrund. Er ist eigentlich ein ideellkleiner Kreis.“ Also doch! So jedenfalls schreibt Kandinsky es in seiner grundlegenden Schrift „Punkt und Linie zu Fläche“ (1925), allerdings nicht ohne weiter auszuführen:

Aber ebenso wie seine Größe, so sind auch seine Grenzen relativ. In realer Form kann der Punkt unendlich viele Gestalten annehmen: seine Kreisform kann ganz kleine Zacken bekommen, er kann eine Neigung zu anderen geometrischen und schließlich zu freien Formen entwickeln. Er kann spitz sein und zum Dreieck neigen. Und durch ein Verlangen nach relativer Unbeweglichkeit geht er zum Quadrat über. (...) Hier sind keine Grenzen festzustellen, und das Reich der Punkte ist unbegrenzt.“

Hinter diese Ausführung zeichnet Kandinsky eine in ihrer Vielfalt durchaus verstörende Menge von Formen, die bis auf die erste – nämlich einen kleinen ausgefüllten Kreis – keineswegs dem entsprechen, was wir uns allgemeinhin unter einem Punkt vorstellen; es sind Kleckse, Flecken, Vierecke, Dreiecke, ausgefranste Ovale und dergleichen mehr. Mehr Offenheit und weniger Festlegung auf den Punkt geht nicht.

Ohne Frage allerdings spielte und spielt „der“ Punkt für viele bildende Künstlerinnen und Künstler spätestens seit den Pointillisten eine überaus wichtige Rolle. Warum, liegt auf der Hand: Nicht zuletzt ist der Punkt die erste Konkretisierung, mit der jeder Schaffensprozess beginnt. Der Punkt ist aber erst dann ein Resultat von Bedeutung, wenn sein Entstehen nicht allein dem Zufall entspringt, sondern Ansatz eines gestaltenden Willens ist. Der Künstler macht mit dem Setzen des ersten Punktes einen Schritt von immenser Bedeutung für die gesamte Entwicklung auf der Bildfläche. Der Punkt als ein Element, das frei ist von Bewegung und daher auch frei von Zeit, kann als der Anfang weit komplizierterer Gefüge verstanden werden, als erster Baustein des Ganzen. Jeder Zug einer Linie ist eigentlich die Spur eines in Bewegung gesetzten Punktes auf der Fläche, jede Linie wiederum besteht also aus unendlich vielen Punkten. Der Punkt, jeder Punkt, wird zum Dreh- und Angelpunkt – nur wie seiner rätselhaften Widerspenstigkeit Herr werden?

Um eine griffige Formel oder ein einigermaßen belastbares Fundament für eine Ausstellung mit dem Titel „Punkt.Systeme“ zu entwickeln, ist es notwendig, sich von der Sehnsucht nach eindeutigen Zuschreibungen und allgemeingültigen Definitionen zu lösen. Der Punkt und die Künstlerinnen und Künstler, die sich mit ihm beschäftigt haben, zwingen dazu, den Blick auf das zu richten, was der Punkt in der Kunst bedeuten kann: pure Farbe zum Beispiel oder reine Form, dienendes Element, Zeichen in einem Schriftsystem oder ein Stellvertreter, also Symbol für etwas ganz anderes. Ein Punkt kann zudem eine Leerstelle bezeichnen oder gar Mittel zur Auslöschung sein. Das alles kann im künstlerischen Sinne ein Punkt sein; er ist nicht weniger als – noch einmal Kandinsky – „eine kleine Welt“ und das bei „innerlich knappster Form“.


Punkt = Farbe

Die Pointillisten – allen voran Georges Seurat und Paul Signac – entdeckten den Punkt als Mittel zur angestrebten Ausschaltung der subjektiven Empfindung. Bis heute ziehen Künstler in ihrem Ringen um Unterordnung oder gar Eliminierung von Subjektivität auf unterschiedlichste Art und Weise den Punkt heran (in unserer Ausstellung zum Beispiel Poul Gernes, Pedro Boese, Damien Hirst, Sigmar Polke). Seurat und Signac ging es zudem vor allem um die Farbe und eine wissenschaftliche Grundlage für ihr künstlerisches Vorgehen. Indem sie Farbe in ihre prismatischen Teile zerlegten und sie, wie Seurat es vorzog zu nennen, „divisionistisch“ auftrugen, also als systematisch gesetzte Masse von Punkten, überließen sie dem Auge des Betrachters die Mischung der Farben. Sie erreichten nicht weniger als eine physikalisch untermauerte neue Ordnung der Farbe, die Seurat als erster auf die Struktur der Dinge und Figuren im Bild übertrug.

In kleinen klaren Punkten setzte der Maler die reinen Farben auf den Bildträger und vermied dabei die herkömmliche Pigmentmischung. Farbe und Licht wurden gleichwertig und die Punkte zu ihren Trägern, die übrigens im Laufe der pointillistischen Entwicklung immer mehr zu Tupfern und Strichlein wurden. Schließlich mehrten sich die Ausbrüche aus dem strengen System, auch bei Malern wie Alexander Kanoldt, die begeistert die pointillistische Idee verfolgten und trotzdem zunehmend aus dem strengen Gefüge ausbrachen. Das künstlerische Interesse galt nicht mehr der Verbindung von Objekt und Realität, im Gegenteil, die Untersuchung von Farbe, Licht und reiner Form rückten vehement ins Zentrum der künstlerischen Auseinandersetzung.

Timm Ulrichs kommentiert diese für die moderne Kunst so ungemein wichtige Entwicklung auf seine gewohnt heitere und zugleich respektvolle Weise: „Seurat zuliebe“ ist eine Hommage an Georges Seurat, den Begründer von Pointillismus beziehungsweise „Divisionismus“, geschaffen aus Liebesperlen in den Farben des Originalbildes „Le Chahut“ (Der Große Auftritt, 1889-1890, Öl auf Leinwand, 171,5 × 140,5 cm, Kröller-Müller-Museum, Otterlo).

Adrian Sauers „16.777.216 Farben“ wiederum markiert in diesem Zusammenhang sozusagen den aktuellen Stand der von Seurat und Signac angestoßenen Entwicklung. Hierzu schreibt der Künstler selbst:

Das heute gebräuchliche Verfahren zur Ausbelichtung digitaler Fotografien ist in der Lage, 16.777.216 unterschiedliche Farben hervorzubringen. Der Computer ist tatsächlich auf exakt diesen Farbraum beschränkt, wenn er Bilder im 8-Bit-RGB-Verfahren bearbeitet. Diese Zahl 16.777.216 resultiert aus technischen Erwägungen, die sich aus unterschiedlichen Anforderungen ergeben haben. Um überhaupt Farben nach dem additiven Farbsystem mischen zu können, werden die drei Grundfarben, Rot, Grün und Blau (RGB), benötigt. Der Computer wiederum benötigt, um rechnen zu können, Zahlen, die sich aus der Potenz der Zahl 2 bilden, sich also nach dem binären System darstellen lassen. Durch wahrnehmungsphysiologische Versuche wissen wir, wie fein unterschiedliche Farben abgestuft sein müssen, damit das menschliche Auge keinen Unterschied mehr zwischen den jeweils benachbarten Farbwerten feststellen kann. Bei einer Abstufung von Weiß nach Schwarz sind es etwa 250 Schritte, die dem menschlichen Auge einen übergangslosen Verlauf vortäuschen. Die der 250 nächstliegende Potenz der 2 ist 256, also 28. 8 Bit bedeutet nichts anderes als 28. Da es aber drei Farben zu kombinieren gilt, um das gesamte Spektrum des sichtbaren Lichts darzustellen, werden die 256 Abstufungen jeweils in den drei besagten Grundfarben verwendet. Will man nun jede der möglichen Kombinationen zwischen ihnen nutzen, kommt man auf 2563. Das ergibt 224 oder 16.777.216. Nachdem ich eine ganze Zeit mit Programmen wie Adobe Photoshop Fotografien bearbeitet hatte, bemerkte ich immer deutlicher, wie stark die Trennung ist, die die übersichtliche Benutzeroberfläche zwischen der zugrundeliegenden Technik und dem Benutzer aufbaut. Schließlich habe ich selbst ein Programm entwickelt, das Bilder herstellt, die all diese Farben exakt ein Mal enthalten.
(Adrian Sauer)

Es ist nur schlüssig, aber dennoch verblüffend, dass diese Bilder – es existieren mehrere Versionen – von Ferne einheitlich grau wirken und erst bei Nahsicht das gewaltige Spektrum ihrer Farbigkeit enthüllen, in Form von 16.777.216 Pixeln.


Punkt = Form

Den eingangs skizzierten Überlegungen und Beobachtungen zum Trotz hat der Punkt in seiner, sagen wir, bekanntesten Form – also der als kleiner runder Kreis – Künstlerinnen und Künstler immer wieder animiert, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Die ersten, die dies in aller Konsequenz und mit dem Willen zur Durchdringung der Problemstellung betrieben, waren die frühen Abstrakten, so der schon erwähnte Kandinsky sowie zahlreiche mit dem Bauhaus mehr oder weniger eng verbundene Künstlerinnen und Künstler, zum Beispiel Josef Albers, Sophie Taeuber-Arp oder Paul Klee. Mit festem Blick auf unser Thema, den Punkt, bietet Nina Gülicher einen erhellenden Einblick in relevante Primärquellen aus dieser Zeit.

Claudia Wieser gehört zu den zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern, die in ihren Zeichnungen und skulpturalen Arbeiten voller Respekt, aber ohne Furcht auf das Formenvokabular der utopischen Moderne zurückgreifen, so die Überlegungen der Meister der Moderne ausprobieren und im Kontext der Gegenwart weiterentwickeln. Die Wandarbeit „Das Jahr der Seele“ besteht aus glasierten Keramik-Fliesen mit roten, violetten, blauen, braunen, grauen und weißen geometrischen Formen - Kreise, Geraden, Vierecke – auf schwarzem Grund. Deutlich abzulesen sind hier Anregungen aus der Bauhaus-Zeit, darunter Kandinskys Musikzimmer für die „Deutsche Bauausstellung“ 1931. Wieser interessiert sich dabei für das utopische Potential der künstlerischen Erkenntnisse der Moderne und seine Wirksamkeit in der Gegenwart. Während die Kunst nach dem 2. Weltkrieg geometrische Formen vor allem als ‚objektive’, ungegenständliche und damit unerzählerische Formen in den Mittelpunkt rückte, nimmt Wieser, wie andere abstrakt arbeitende Künstler unserer Zeit, den Kandinsky’schen Gedanken des „Geistigen“ in der Kunst wieder auf. Auch das nicht zu unterdrückende menschliche Bedürfnis zum Narrativieren und Emotionalisieren denkt die Künstlerin mit und folgt darin ganz einem ihrer anderen bedeutenden Vorbilder der Moderne: Architekt Bruno Taut. „Kunst ist Mitteilung von Empfindungen, und darin liegt ihre Grenze. Sie duldet darum keine Abstraktion, die nicht in der Natur ihrer Mittel liegt. Eine darüber hinausgehende Abstraktion überschreitet die Grenze des Künstlerischen auf die Gefahr hin, Erzeugnis des Intellekts und nicht mehr der Phantasie zu werden.“ (Bruno Taut im Nachwort von „Der Weltbaumeister. Architektur-Schauspiel für symphonische Musik“, 1920)

Auch der Maler Jan Maarten Voskuil widmet sich dem Punkt in seiner perfekten Rundform, allerdings lässt er diese nicht unangetastet, im Gegenteil: in seinen Arbeiten dehnt, biegt, zerstückelt Voskuil den Punkt, lässt ihn auf den Boden ‚auslaufen’, von Wänden eindellen und setzt ihn neu und anders wieder zusammen. Das Erstaunliche ist, dass diese so entstehenden Gebilde immer noch als Punkt erkennbar sind. Damit scheinen sie Kandinskys Worte über den Punkt zu bestätigen: „seine Grenzen sind relativ.“ Voskuils Arbeiten befinden sich allesamt auf der Grenze von Malerei und Skulptur, er selbst jedoch besteht darauf, dass sie reine Malerei seien und als Skulptur „nichts taugen“. Dieser Auffassung folgend sind seine bis zum Äußersten verformten Punkte und Kreise als Malerei zu verstehen, die in den realen Raum übergeht, Teil dessen wird und ihn verändert – Raum und Malerei treten in eine direkte wechselseitige Verbindung.


Punkt = Element

Während bei den gerade erwähnten Werken der Punkt in seiner Rundheit als eigenständige Form im Zentrum künstlerischer Auseinandersetzung und Analyse steht, übernimmt er in den Arbeiten aller Künstler, die technische Abbildungsverfahren verwenden, dienende Funktion. Hier wird der Punkt ein Element unter anderen, ein Punkt unter Punkten, fügt sich als Teilchen in ein Raster ein. Damit sind nicht nur die auf Druckrastern basierenden Arbeiten von Roy Lichtenstein oder Sigmar Polke und Werner Berges gemeint, letzterer womöglich für viele Besucher der Ausstellung eine (Wieder-)Entdeckung.

Aber auch Vertreter der Geometrischen Abstraktion wie François Morellet oder Victor Vasarely haben sich das Raster, mit runden wie auch mit eckigen Elementen, zu eigen gemacht. Victor Vasarely entwickelte nach dem 2. Weltkrieg seine Farbvibrationskunst aus den chromatischen Experimenten der Bauhausschule. Eine solche aus Farbkontrasten abgeleitete Op-Art (Bridget Riley ist eine weitere Vertreterin) benutzt vornehmlich serielle Strukturen und verweist dabei auch auf das Ornament. Quadrat, Rechteck, Dreieck, Kreise und Ellipsen, klar erkennbare Linien, Primärfarben und "unbunte" Farben wie schwarz, weiß und grau in allen Tonabstufungen dienen als wesentliche künstlerische Mittel. Das Gesamtbild wird in Einzelflächen aufgeteilt, sein Inhalt ist strikt ungegenständlich. So wird die Konzentration der Betrachter auf die Beziehungen zwischen Farben und Formen gelenkt. Die Aufmerksamkeit gilt eher der Gesamtanlage des jeweiligen Werkes als dem Detail, der einzelne Punkt geht auf im All-Over des die Bildfläche bedeckenden Rasters.

Ähnlich streng legt Pedro Boese seine Bilder an, die auf geometrischen Punkte-Rastern basieren. Die Entscheidung für das Raster geht bei Boese, ebenso wie bei vielen anderen Künstlern, auf den Wunsch zurück, die eigene, subjektive Handschrift beziehungsweise die als individuell erkennbare Entscheidung für ein bestimmtes Motiv aus den Kunstwerken zu tilgen. Boese belässt es dann jedoch nicht bei den kühlen Gittermustern, sondern nimmt diese als Ausgangsbasis für die weitere Bearbeitung des Malgrundes, so zum Beispiel in dem Gemälde „lateral“, in dem ersten drei vertikalen Reihen links teilweise abgeschabt sind, oder, radikaler, in „resíduo“, auf dem gleich ein Großteil des türkis-hellroten Rasters mit dem Bandschleifer weggeschliffen worden und nur noch ein vergleichsweise kleines, ausgefranstes Feld übrig geblieben ist. Der Rest der Bildfläche ist pure, wenn auch verkratzte, Hartfaserplatte. Ebenso wie Shila Khatamis verbinden Boeses Arbeiten gestische Mittel mit denen des geometrischen Minimalismus. Anders als Boese überträgt Khatami ihre künstlerischen Überlegungen auch in skulpturale Arbeiten: in der großformatigen Plastik „2x289x150 waxed” lehnt sie zwei Stahllochplatten in verschiedenen Winkeln voreinander an die Wand. Allein durch diese simple Anordnung ergibt sich, sobald sich der Blick an der Skulptur entlangbewegt, der sogenannte Moiré-Effekt, der entsteht, wenn zwei Raster, gegeneinander verdreht, übereinander liegen. Moiré-Effekte treten vor allem beim Drucken, beim Fernsehen, beim Scannen und bei anderen bilderzeugenden Rasterverfahren auf, wenn das Objekt selbst fein gerastert ist oder falls das Objekt schon ein Raster- oder Pixelbild ist.

Auch die mit dem Pixel operierenden Werke von Künstlern wie dem schon erwähnten Adrian Sauer, von Thomas Ruff, Renaud Regnery oder Antoine Schmitt gehören in diesen Zusammenhang. Zwar scheinen die fotografischen, gemalten beziehungsweise animierten Pixel in ihren Arbeiten weit entfernt von den gleichmäßigen Punkterastern, wie wir sie bei Lichtenstein oder Polke finden, aber wie Druckerpunkte ist das Pixelraster Schema eines Abbildungsverfahren und zwar des digitalen. Und wie im älteren Druckverfahren, so tritt dieses Schema auch in der neueren Digitaltechnik je mehr in Erscheinung desto weiter entfernt es von seiner perfekten Ausführung scheint. Aus groben Punkten und bildersetzend großen Pixeln lässt sich künstlerisch einiger Gewinn schlagen, und das medienübergreifend, wie Thomas Ruffs Fotografien, Antoine Schmitts Videos oder Renaud Regnerys Gemälde demonstrieren.

In den komplexen Gemälden im Großformat von Renaud Regnery legt sich eine Schicht aus Pixeln über die darunter liegenden Schichten aus Tapete und Malerei. Von weitem ist dies kaum wahrzunehmen – auf Abbildungen fast unsichtbar –, von Nahem jedoch deutlich zu erkennen: ein dichtes Gefüge aus eckigen Partikeln, unverkennbar Pixeln, bildet die Haut des Bildes. Tritt man nach diesem Erkennen wieder zurück und betrachtet das Bild erneut von Weitem, rückt auch die Makrostruktur dieser Pixel ins Blickfeld. Wer ganz genau hinschaut, kann darin die Form stark vergrößerter, verwischter Fingerabdrücke erkennen. Regnery hat die inzwischen schon charakteristisch zu nennenden Fingerspuren auf einem Smartphone (digital) fotografiert, diese vergrößert und auf das Gemälde gedruckt. Der Inbegriff aktueller Abbildungstechnologie, das Pixel, bildet das ursprünglichste menschengemachte Bild ab, den Fingerabdruck, und verweist wiederum auf die Paradoxie unserer hochempfindlichen Fingerkuppen und des für sie geschaffenen, jedoch haptisch vollkommen neutralen Touchscreens.


Punkt = Zeichen

Nach Kandinsky ist „der geometrische Punkt in unserer Vorstellung die höchste und höchst einzelne Verbindung von Schweigen und Sprechen [Hervorhebung im Original]. Deshalb hat der geometrische Punkt seine materielle Form in erster Linie in der Schrift gefunden – er gehört zur Sprache und bedeutet Schweigen.“

Im Folgenden probiert Kandinsky einige Umstellungen von Punkten innerhalb von Sätzen („Heute gehe. Ich ins Kino“), separiert den Punkt vom Satz („In diesem Fall muß der Punkt eine größere freie Umgebung um sich herum haben, damit sein Klang eine Resonanz erhält. Trotzdem bleibt aber dieser Klang zart, bescheiden und wird von der ihn umgebenden Schrift übertönt.“) und stellt ihn schließlich vergrößert allein: „Bei Vergrößerung der freien Umgebung und der Größe des Punktes selbst vermindert sich der Klang der Schrift, und der Klang des Punktes gewinnt an Deutlichkeit und Kraft.“

Diese Kraft benutzt Kris Martin, indem er – als exerziere er Kandinsky’sche Etüden – den jeweils letzten Punkt eines Romans, also den, welcher den Schlusssatz des Buches abschließt, ausschneidet und als Solitär präsentiert. Der winzige Punkt wird mit der beigegebenen Information, welches große literarische er Werk abgeschlossen hat, aufgeladen, erhält so narratives Gewicht und eine weit über sich hinausweisende Bedeutung. Martin geht damit über Kandinskys vom Schriftbild losgelösten, aber nicht gänzlich separiertem Punkt hinaus – den „Schrift-Punkt“, der für Kandinsky „ein Balancieren von zwei Welten, das nie zum Ausgleich kommen kann“, bedeutet –, ganz nach dessen Vorstellung, nach welcher „der Punkt aus seinem Gewohnheitszustand herausgerissen worden [ist], und so nimmt er den Anlauf zum Sprung aus einer Welt in die andere, wo er sich von der Unterordnung, vom Praktisch-Zweckmäßigen befreit, wo er als ein selbständiges Wesen [Hervorhebung im Original] zu leben anfängt (...) Dies ist die Welt der Malerei.“

Etwas anders verhält es sich mit dem Punkt in einem Schriftsystem, das nicht für das Betrachten, sondern das Ertasten entwickelt wurde: in der Braille-Schrift, die allein aus Punkten Buchstaben bildet, die als erhabene, also zu ertastende, Zeichen von Blinden zu lesen sind. Schon seit einigen Jahren beschäftigt sich die Künstlerin Noa Lidor mit diesem Schriftsystem, erprobt es in Zeichnungen und räumlichen Installationen. In unserer Ausstellung zeigen wir „Till human voices wake us“, dessen Titel der letzten Zeile von T.S. Eliots 1915 veröffentlichten Gedicht „The Love Song of J. Alfred Prufrock“ entnommen ist. Dieses Gedicht, das als Eliots erste bedeutende Publikation gilt, besticht durch seine geheimnisvolle Verwebung von Realität und Symbolik in Form eines Bewusstseinsstroms, der naturgemäß eher assoziativ als kausal verbunden ist. Dieser Strom endet mit den Versen:

We have lingered in the chambers of the sea
By sea-girls wreathed with seaweed red and brown
Till human voices wake us, and we drown.

(ohne Rücksicht auf Versmaß und Reim etwa: „Wir verweilten in den Kammern des Meeres / mit Meermädchen, die in roten und braunen Seetang gehüllt waren /bis Menschenstimmen uns weckten, und wir ertranken.“)

Blinde, welche die Schrift aus Salz (hierin ist ein Hinweis auf das Meer zu lesen) lesen könnten, würden beim Versuch der Lektüre das Salz und damit die Schriftzeichen zur Unkenntlichkeit verwischen, bevor sie auch nur einen Buchstaben des Gedichts erkennen könnten, während die Sehenden das Schriftbild zwar sehen, es aber nicht entziffern können. So bleibt die Schrift aus Salz für die Betrachter ein gegenstandsloses Bild aus Punkten, das vage auf einen möglichen Inhalt verweist, diesen jedoch nicht preisgibt, also letztlich hermetisch bleibt, ganz wie der einzelne Punkt selbst.

Damit gleicht Noa Lidors Arbeit ein wenig den Werken von Gladdy Kemarre und Greeny Purvis Petyarre, australischen Malern, deren Werk der sogenannten ‚indigenn’ Kunst zugeordnet wird. Die Punkt-Malerei ist für die Aborigine-Künstler von großer Bedeutung, wenn auch nicht die einzige praktizierte Malweise, sondern eine unter vielen, die wiederum in viele verschiedene Stile zu unterteilen ist. Es würde bei weitem den Rahmen sprengen, an dieser Stelle auch nur zu versuchen, die Geschichte australischer Aborigine-Kunst und ihre komplexen Inhalte und unterschiedlichen Stilausprägungen zu beleuchten. Grundlegend für ein annäherndes Verständnis ist das Wissen um die Quelle der Ikonographie der Bilder: Die „Tjukurrpa“, auch „Dreaming“ genannt und im Deutschen oft als „Traumzeit“ bezeichnet. Mit ihr ist die Mythologie der indigenen Bevölkerung Australiens gemeint, in deren Zentrum die Wanderung der Ahnen durch das Land steht, das sie gleichzeitig schufen und formten. Im spirituellen Denken der Aborigines sind Orte, Menschen, ihre Ahnen und deren Geschichten aufs engste miteinander verwoben. Jeder lernt die rituelle Darstellung der mit seinem Lebensort verknüpften Ereignisse während der Tjukurrpa. Konzentrische Kreise, Punkte, Linien und U-Formen bilden eine reichhaltige Symbolsprache, die den Aborigines geläufig ist, ihnen oft mehrschichtige Geschichten und Bedeutungen enthüllt, Europäern jedoch geheimnisvoll beziehungsweise auf modernste Weise abstrakt – und letztlich hermetisch – erscheint. Viele der zeitgenössischen indigenen Künstler Australiens lösen sich in ihren Bildern mehr und mehr von den Inhalten der Tjukurrpa, geben oft nur noch Hinweise oder Andeutungen, kurz: es kann von Abstraktion gesprochen werden, aber einer, die immer eng mit dem Spirituellen verbunden sein will – womit sie Kandinskys Überlegungen zum „Geistigen in der Kunst“ gar nicht so fern sind. (Zur ein- und weiterführenden Lektüre sei empfohlen: Aboriginal Art Galerie Bähr (Hg.): Das Verborgene im Sichtbaren, Speyer 2002)


Punkt = Stellvertreter

Der Punkt als Zeichen existiert jedoch nicht nur innerhalb festgefügter Systeme und mit entsprechend zuzuordnendem Inhalt; da er nach Kandinsky „eine kleine Welt“ ist, ist es ihm ein leichtes, verschiedenste Bedeutungen – man könnte auch Rollen sagen – anzunehmen. Dabei hilft ihm seine innerlich so knappe Form. Bei Thomas Ruff erkennen wir in verschieden großen hellen Punkten auf dunklem Grund Sterne, ebenso bei Timm Ulrichs' „Nachtlied“. Üüberhaupt: Punkte und der Nachthimmel, das wäre noch einmal ein ganz eigenes Ausstellungsthema, dem sich schon auffällig viele Künstlerinnen und Künstler gewidmet haben. Und bei David Shrigleys lustigen, oft abgründigen Zeichnungen werden aus Punkten beziehungsweise Kreisen kleine anthropomorphe Gestalten mit Gesichtern – mancher hat sogar Ohren.

Einer der bekanntesten zeitgenössischen ‚Punkte-Maler’ ist wohl Damien Hirst, der seit 1986 „dots“ malt und diese erst kürzlich in einer umfassenden weltweiten Ausstellung in elf Filialen seiner Galerie gezeigt hat. Auf keiner der Leinwände, die von unterschiedlicher Größe und verschiedensten Formaten sind, kommt eine Farbe doppelt vor, und immer ist der Abstand zwischen den Punkten so groß wie die Punkte selbst – alle anderen Entscheidungen überlässt der Künstler seinen Assistenten, die die konzeptuellen „dot paintings“ ausführen. Ihre industrielle Machweise – es gibt inzwischen über 1500 – wollen diese Werke nicht verleugnen und tun es auch nicht. Betitelt sind sie mit medizinischen Begriffen, so auch der Holzschnitt „Guaiazulene“ in unserer Ausstellung, der den Namen eines entzündungshemmenden Wirkstoffs trägt. Dadurch werden die Werke mit Bedeutung aufgeladen und erinnern in ihrer runden Form unweigerlich an Tabletten und damit an Hirsts Installation „Pharmacy“ (1992), den Nachbau einer kompletten Apotheke, oder „Lullaby Spring“ (2002), eines von mehreren ähnlichen verspiegelten Regale, in denen er unendliche Variationen von bunten Pillen zu langen Reihen anordnete. Ihre Ästhetik und das Wissen um die Wirksamkeit ihrer Inhaltsstoffe gehen in diesen Werken eine eigenartige Verbindung ein, genauso wie die Assoziation von Kunst und Medizin. Der Punkt als Heilmittel also – eine Aufgabe, die er ohne großes Aufheben auch noch übernimmt.

Bei Scott King wird der Punkt gar zum Menschen, und das auf ganz leichtfüßige Art und Weise: Kings Bilder zeigen strenge schwarze Raster auf weißem Grund, in der untersten Reihe gibt es nur noch einzelne Punkte. Erst die Titel der Arbeiten deuten darauf hin, was hier eigentlich dargestellt ist: „Rolling Stones“, „Ziggy Stardust“ oder „The Who“. Umgehend verwandeln sich die Raster in Zuschauerreihen und die einzelnen Punkte in Rockstars, sozusagen von oben gesehen. Die Raster bekommen narrative Bedeutung, gleichsam als Icons verweisen sie mit minimalen Ausdrucksmitteln auf komplexe Inhalte. Dafür machen sie sich die menschliche Fantasie und das Vorstellungsvermögen der Betrachter zunutze, die selbst so etwas Sprödes wie ein schwarz-weißes Raster in jubelnde Menschenmassen und verschwitzte Rockstars verwandeln können. Derart narrativ und emotional aufgeladen stellt es nebenbei das Raster als ‚objektive’ minimale Struktur in Frage.

In Timm Ulrichs’ „Verkaufsbild“ ist es ein einziger Punkt, der, im rechten Teil des Diptychons, aus dem ansonsten disziplinierten roten Raster tanzt. Erst durch diesen Ausbruch und seinen Titel – „Käufliches Bild“ beziehungsweise „Verkauftes Bild“ – wird das Raster als eine Reihung aus jenen roten Verkaufspunkten erkennbar, die man von Kunstmessen oder aus Galerien kennt: dort stehen sie für den erfolgten Verkauf eines Kunstwerks. So nimmt Ulrichs nicht nur das Raster in der bildenden Kunst auf’s Korn, sondern reflektiert zudem humorvoll die Kunst als käufliche Ware.


Punkt = Leerstelle

Als Antwort auf die Frage von zwei Filmemachern, wie die Welt ihn wohl in 100 Jahren in Erinnerung haben würde, erwiderte John Baldessari trocken: „Ich bin der Typ, der Punkte auf die Gesichter von Leuten klebt.“ (Henry Joost und Ariel Schulman, A Brief History of John Baldessari (Video, gesprochen von Tom Waits, 5 Min 55 Sek, 2012)) Das erste Mal klebte der Künstler Mitte der achtziger Jahre Punkte auf gefundene Bilder. Zu verschiedenen Gelegenheiten hat Baldessari beschrieben, wie es dazu kam: Er hatte schon länger mit Bildern aus Zeitungen und Magazinen gearbeitet, als ihn eines Tages schlagartig die Erkenntnis traf, dass die Leute darauf – Politiker, Schauspieler, lokale Berühmtheiten – im Grunde mehr für die Gesellschaft taten als der Künstler in seinem Atelier. Und so klebte Baldessari kurzerhand kleine runde Preisaufkleber, die er gerade für eine andere Arbeit brauchte, auf eines dieser Zeitungsbilder, um die Gesichter der Akteure nicht mehr sehen zu müssen – „und da hatte ich plötzlich das Gefühl, ich hätte die Situation auf dem Spielfeld zumindest einigermaßen ausgeglichen“. Die Individualität der Personen wird ihnen durch die farbigen Punkte genommen, jegliche emotionale Regung getilgt. Der verdeckende Punkt lenkt den Blick auf die Umgebung, den Körper, die Komposition des Werkes, anstatt auf die Gesichter, auf die der menschliche Blick normalerweise als erstes fällt. Es ist diese kaum zu mindernde Anziehungskraft, der Baldessari radikal platzierte Leerstellen entgegensetzt, um so die Kontrolle über die Bildbetrachtung zumindest teilweise zurückzugewinnen.

Noch viel mehr Leerstellen als Baldessari setzt Miguel Rothschild in seine Fotografien: „Jubiläum“ zeigt eine Häuseransicht aus Havanna, Cuba, auf der gesamten Fläche des Bildes durchlöchert. Die Löcher - also Punkte in ihrer Negativform – bilden eine ornamentähnliche Struktur, die sich über das Foto legt. Als Häuflein liegen die beim Ausstanzen der Punkte entstehenden ‚Konfetti’ hinter dem Bilderahmen am Fuße des Bildes. Durch die schiere Menge der Ausstanzungen wirkt die Häuseransicht vollständig durchlöchert, bleibt aber trotz dieser Leerstellen erstaunlich gut zu erkennen. Erst beim nahen Herantreten werden die eklatanten Lücken im Bild ersichtlich, es fehlen nicht nur architektonische Teile, Stücke im Straßenpflaster oder Einkaufstüten, sondern auch – ähnlich wie bei Baldessari – ganze Köpfe von Passanten. Spätestens jetzt wird der Akt des ‚Bild-Zerstanzens’ als brutale Verletzung des Bildes deutlich, gegen welche sich das Bild jedoch behaupten kann.

Zu Yayoi Kusamas „The Obliteration Room“, der auch in diesen Zusammenhang gehört, schreibt Reinhard Spieler später in diesem Katalog. Nur soviel an dieser Stelle: Kein anderes Werk benutzt den Punkt derart radikal als Leerstelle oder, um den Begriff „Obliteration“ (Auslöschung) aufzugreifen, als Löschzeichen. Der schöpferische Akt des Punkteklebens der Besucher führt sozusagen zur Auslöschung des Raumes. Dabei gibt die Künstlerin die Kontrolle vollständig ab an die Betrachter, die damit gleichzeitig Schöpfer und Zerstörer werden.

Zuletzt sei hier schließlich auf John Armleders „Hafelekar“ hingewiesen: Die Wandinstallation besteht aus einer variablen Menge von im Rechteck montierten Plexiglas-Halbkugeln und gibt die Fragen, was ein Punkt sei, was er bedeute und wie er dargestellt werden könnte, ganz nonchalant an die Betrachter zurück: In den spiegelnden Halbsphären sehen sie ihr eigenes Bild und das ihrer Umgebung, verzerrt, in vielfacher Ausfertigung, aus unterschiedlichsten Perspektiven. Diese Wahrnehmung ist übertragbar auf unsere Überlegungen zum Punkt; wie wir in unserer Ausstellung zu zeigen versuchen, kann der vermeintlich so klar definierte Punkt unterschiedlichste Gestalt, Bedeutung und Funktion annehmen. Dadurch ist er nicht nur für die Mathematik als Figur interessant, sondern auch als Konzept für Philosophie und Kunsttheorie, in der Wahrnehmungsphysiologie und natürlich der Darstellungstechnik. Aber der Punkt kann noch mehr, das ist sicher. Es scheint auch keine allzu gewagte These zu sein, aufgrund der vielfältigen künstlerischen Untersuchungen, von denen wir einige in „Punkt.Systeme“ versammeln konnten, zu behaupten, dass der Punkt alles kann, ja, sogar alles ist. Der Punkt ist alles. Aber: Nicht alles ist ein Punkt.